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Neue Horizonte im Vertriebs­kartell­recht?

04.03.2024

Vertriebsverträge zwischen Lieferanten und Abnehmern, aber auch einseitige Verhaltensweisen im Rahmen des Vertriebes, wie die Vorgabe von Konditionen, unterliegen auch kartellrechtlichen Grenzen. Wir sprechen insoweit zusammenfassend von vertriebskartellrechtlichen Fragestellungen, die stets mitzudenken sind, wenn Vertriebssysteme aufgesetzt oder überarbeitet werden.

Hierbei spielt die im Mai 2022 aktualisierte Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen („Vertikal-GVO“) nebst zugehörigen Leitlinien der Europäischen Kommission eine bedeutende Rolle (weiterführend bereits: Competition Outlook 2023). Unter bestimmten Voraussetzungen werden vertikale Vereinbarungen zwischen Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Produktions- oder Vertriebskette durch die Vertikal-GVO generell vom Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV freigestellt (Safe Harbour).

Eine Freistellung durch die Vertikal-GVO erfolgt nicht, wenn die Vertriebsvereinbarung sog. Kernbeschränkungen enthält. Dies sind insbesondere Vereinbarungen, die eine Preisbindung der zweiten Hand, Kunden- oder Gebietsbeschränkungen und – seit Mai 2022 explizit hervorgehoben – eine Beschränkung der effektiven Nutzung des Internets bezwecken.

In diesem Zusammenhang ist die „ Super Bock Entscheidung“ des Europäischen Gerichtshofs („ EuGH“) (EuGH, Urt. v. 29.6.2023 – C-211/22 – Super Bock Bebidas) hervorzuheben. In dem Verfahren ging es um die Frage, ob die Festsetzung eines Mindestpreises durch einen Lieferanten für den Weiterverkauf durch seine Abnehmer stets als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung anzusehen ist. Eine solche Preisvorgabe gilt jedenfalls als Kernbeschränkung im Sinne der Vertikal-GVO, sodass eine solche Vereinbarung vom Safe Harbour der Gruppenfreistellung ausgenommen ist. Der EuGH hat nun klargestellt, dass die Kategorie der „Kernbeschränkung“ nicht ohne Weiteres mit der Kategorie der „bezweckten“ Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 101 Abs. 1 AEUV gleichgesetzt werden kann. Der EuGH betont in diesen Zusammenhang den Grundsatz, dass, wenn schon nicht eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV vorläge, es auf eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht ankomme. In der Konsequenz erhöht sich der Begrün- dungsaufwand für die Behörden, die so den konkreten Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV detaillierter prüfen müssen. Allerdings ist mit der Entscheidung keinesfalls eine Art Freifahrtschein für vertikale Preisbindungen verbunden.

Mit der Vertikal-GVO sind im Übrigen vor allem die Neuerungen in den Bereichen Online-Vertrieb, Online- Handelsplattformen und Hybrid-Plattformen verbunden. Auch wurden konkrete Vorgaben aufgenommen, wann ein Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen zwischen dem in einem Wettbewerbsverhältnis stehenden Lieferanten und seinen Abnehmern im „zweigleisigen Vertrieb“ freigestellt ist und wann nicht (sog. vertikaler Informationsaustausch). Dies ist stets zu prüfen, wenn ein Lieferant Produkte oder Dienstleistungen sowohl direkt, z. B. über eigene Niederlassungen oder online, als auch indirekt über selbstständige Abnehmer, wie z. B. Händler, vertreibt oder zu vertreiben gedenkt.

Im weiteren Rahmen von Vertriebssystemen, etwa bei der Herstellung der eigenen Vertragsprodukte, besteht ferner oft ein Interesse für Kooperationen mit anderen Unternehmen. Dies können auch Wettbewerber sein mit der Folge, dass das Kartellrecht ein wichtiger Prüfungsbaustein ist. Hervorzuheben ist daher, dass seit dem 1. Juli 2023 die neuen Gruppenfreistellungsverordnungen der Europäischen Kommission für Spezialisierungsvereinbarungen (Spezialisierungs-GVO) und für Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung (FuE-GVO) in Kraft getreten sind. Sie gelten bis zum 30. Juni 2035. Die Regelungen bilden einen Safe Harbour für bestimmte Vereinbarungen zwischen Unternehmen über eine spezialisierte oder gemeinsame Produktion und die gemeinsame Forschung und Entwicklung, inklusive der Nutzung der Ergebnisse.

Vereinbarungen und jedwede Kontakte mit (zukünftigen) Wettbewerbern sind vor allem mit Blick auf den kartellrechtlich relevanten Informationsaustausch engen Grenzen unterworfen. Daher gilt ein weiteres Augenmerk den von der Europäischen Kommission ebenfalls im Sommer 2023 veröffentlichten neuen Leitlinien zu Vereinbarungen über die horizontale Zusammenarbeit (Horizontal-Leitlinien), die unter Berücksichtigung jüngerer Rechtsprechung umfassende Klarstellungen enthalten. Diese umfassen ein neu strukturiertes und erweitertes Kapitel zum Informationsaustausch, das nunmehr das Konzept der sensiblen Geschäftsinformationen vertieft erläutert und Maßnahmen beschreibt, um einen Kartellrechtsverstoß zu vermeiden.

Vollständig neu sind ferner Ausführungen zu sog. Nachhaltigkeitsvereinbarungen, die Spielraum für Kooperationen schaffen können, um Nachhaltigkeitsziele zu verfolgen.

Weiter ist hervorzuheben, dass der EuGH im letzten Jahr seine Praxis zur Feststellung kartellrechtlich unzulässiger Exklusivitätsbindungen durch marktbeherrschende Unternehmen präzisiert hat (EuGH, Urt. v. 19.1.2023 – C-680/20 – Unilever). Durch die Entscheidung erhöht sich der Aufwand für die jeweilige Wettbewerbsbehörde, den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch Ausschließlichkeitsklauseln zu begründen, wenn sich das betroffene Unternehmen entsprechend verteidigen kann. Für die Praxis bedeutet dies, dass auch von marktbeherrschenden Unternehmen auferlegte Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen nicht per se missbräuchlich und damit unzulässig sein müssen – auch wenn diese selbstverständlich weiter risikobehaftet sind.

Dabei kann es darauf ankommen, ob die Ausschließlichkeitsklausel für ebenso leistungsfähige Wettbewerber Verdrängungswirkung entfaltet (sog. „as efficient competitor test“ – AEC-Test). Zuvor hatte der EuGH bereits für Ausschließlichkeitsrabatte die Anforderungen an die Wettbewerbsbehörden in vergleichbarer Weise erhöht.

Insbesondere für die Hersteller von Kraftfahrzeugen interessant ist ferner, dass auch die Geltungsdauer der Gruppenfreistellungsverordnung betreffend vertikale Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor bis zum 31. Mai 2028 in ihrer bisherigen Fassung verlängert wurde. Damit bleibt es hinsichtlich Vertriebsvereinbarungen im sog. „ Aftersales-Bereich“ im Wesentlichen bei der alten Rechtslage. Änderungen gab es in den ergänzenden Leitlinien für den Kfz-Bereich („Kfz-Leitlinien“).

Die Europäische Kommission hat hier u.a. Ergänzungen zu Fahrzeugreparatur- und -wartungsinformationen („RMI“) aufgenommen, die etwa beim Vertrieb bzw. der Vermarktung solcher RMI und anderer Fahrzeugdaten durch Fahrzeughersteller zu beachten sind. So etwa die Warnung, dass das einseitige Vorenthalten fahrzeuggenerierter Daten den Missbrauchstatbestand nach Art. 102 AEUV erfüllen kann. Dies steht in einem mit Rechtsunsicherheiten belegten Regelungskontext, denn sog. unabhängige Wirtschaftsakteure haben gegen Fahrzeughersteller auch aufgrund der Typgenehmigungsverordnung (EU) 2018/858 Zugang zu RMI, zur On-Board-Diagnose (OBD) und weiteren Informationen und Leistungen, mit denen sich der EuGH sowohl 2022 als auch 2023 wiederholt befasst hat. In diesen Verfahren konnten wir bereits für unsere Mandanten sicherstellen, dass diese mit RMI weiterhin Gewinn erwirtschaften dürfen (EuGH, Urt. v. 27.10.2022 – C-390/21) und nicht verpflichtet sind, eine automatisierte Datenbankschnittstelle zu RMI anzubieten (EuGH, Urt. v. 9.11.2023 – C-319/22).

 

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