Kartellrecht und Arbeitsmärkte – ein neuer Schwerpunkt der EU-Wettbewerbsbehörden?
Update 12.08.2024
Die Europäische Kommission („Kommission") nimmt derzeit mögliche Kartellverstöße auf den Arbeitsmärkten genauer unter die Lupe. Im November 2023 führte die Kommission Nachprüfungen in den Räumlichkeiten von Unternehmen durch, die im Bereich der Online-Bestellung und -Lieferung von Lebensmitteln tätig sind. Die Untersuchung konzentriert sich u.a. auf Abwerbeverzichtsvereinbarungen (sog. „no-poach“-Vereinbarungen, vgl. Pressemitteilung). Inzwischen hat die Kommission im Juli 2024 ein förmliches Kartellverfahren gegen die Unternehmen Delivery Hero und Glovo eingeleitet, das zusätzlich auch den Vorwurf einer räumlichen Marktaufteilung sowie den Austausch von sensiblen Geschäftsinformationen betrifft (Pressemitteilung).
Bereits im Mai 2024 veröffentlichte die Kommission einen Policy Brief für den Umgang mit Vereinbarungen auf dem Arbeitsmarkt, wobei der Schwerpunkt auf Gehaltsabsprachen (sog. wage-fixing) und Abwerbeverzichtsvereinbarungen lag. Dass die Kommission diese Märkte untersucht, hängt auch damit zusammen, dass die Arbeitsmärkte in vielen EU-Mitgliedstaaten mäßig bis stark konzentriert sind (laut einer von der OECD geleiteten Wirtschaftsstudie, Link). Die Kommission sieht die Gefahr, dass Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen die Marktmacht der Arbeitgeber verstärken und den Mitarbeitern schaden könnten, während sie zugleich den nachgelagerten Wettbewerb schwächen und letztlich zu höheren Preisen und geringerer Qualität führen könnten.
Was sind Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen?
Durch Gehaltsabsprachen vereinbaren unterschiedliche Arbeitgeber miteinander die Löhne oder andere Arten von Vergütungen oder Gratifikationen für ihre Mitarbeiter festzulegen.
In Abwerbeverzichtsvereinbarungen einigen sich Arbeitgeber darauf, sich gegenseitig keine Mitarbeiter zu „stehlen“. Dies kann sich auf das Verbot beschränken, aktiv auf die Mitarbeiter eines anderen Arbeitgebers mit Jobangeboten zuzugehen ("Abwerbeverbot") oder auch ein passives Verbot beinhalten, solche Mitarbeiter einzustellen ("Einstellungsverbot").
Aus Sicht der Kommission macht es für die kartellrechtliche Beurteilung keinen Unterschied, ob es sich um branchenweite oder auf wenige Parteien beschränkte Vereinbarungen handelt, wie viele Parteien beteiligt sind und wie viele Parteien an die Vereinbarung gebunden sind. Die Praktiken werden vielmehr allgemein beurteilt und in der Regel als verboten angesehen (weitere Einzelheiten dazu unten).
Wichtig ist anzumerken, dass ein Kartellrechtsverstoß nicht voraussetzt, dass die Unternehmen auf einem nachgelagerten Produktmarkt miteinander konkurrieren. Es reicht aus, wenn sie im vorgelagerten Bereich um Mitarbeiter konkurrieren.
Rechtliche Einordnung der Kommission im Überblick
Sowohl in den Horizontal-Leitlinien (EU ABl. C 259 vom 21.7.2023, Rn. 279) als auch in den Leitlinien zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union auf Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen von Solo-Selbstständigen (EU ABl. C 374 vom 30.9.2022, Rn. 17) vertritt die Kommission die Auffassung, dass Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen grundsätzlich als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne des Kartellverbots anzusehen sind. Bei bezweckten Beschränkungen handelt es sich um bestimmte Arten der Koordinierung zwischen Unternehmen, die den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen, so dass davon auszugehen ist, dass die Prüfung ihrer Auswirkungen nicht notwendig ist.
In ihrem jüngsten Policy Brief bekräftigt die Kommission ihre Auffassung und fügt hinzu, dass Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen wahrscheinlich nicht als notwendige Nebenabreden angesehen oder im Einzelfall freigestellt werden können.
Die Kommission bewertet Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen generell als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen
Die Kommission bewertet sowohl Gehaltsabsprachen als auch alle Formen von Abwerbeverzichtsvereinbarungen als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen. Eine solche Einstufung hat im Allgemeinen zur Folge, dass eine umfangreiche Analyse der Auswirkungen auf den Wettbewerb durch die Wettbewerbsbehörden nicht erforderlich ist, was den behördlichen Ermittlungsaufwand erheblich verringert. Vor dem Hintergrund der einschneidenden Folgen eines Verstoßes gegen das Kartellrecht ist das Konzept der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung nach der Rechtsprechung der Europäischen Gerichte restriktiv zu handhaben und nur auf Verhaltensweisen anzuwenden, die den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof in den letzten Jahren die vorschnelle Einstufung eines Verhaltens als bezweckte Beschränkung in Frage gestellt (z.B. in seinem Urteil Super Bock Bebidas (C-211/22), siehe Noerr News Artikel, und in seinem Urteil Budapest Bank Nyrt (C-228/18)).
Es bleibt daher abzuwarten, ob die Einstufung von Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen durch die Kommission letztlich Bestand haben wird. Die Begründung der Kommission lautet im Wesentlichen wie folgt:
Hinsichtlich der Analyse des Inhalts der Vereinbarungen stellt die Kommission zunächst fest, dass Gehaltsabsprachen vergleichbar mit den ausdrücklich verbotenen Einkaufspreisfestsetzungen sind (Art. 101 Abs. 1 lit. a AEUV), während Abwerbeverzichtsvereinbarungen vergleichbar mit der ausdrücklich verbotenen Aufteilung der Versorgungsquellen sind (Art. 101 Abs. 1 lit. c AEUV).
Zweitens ist es nach Ansicht der Kommission schwierig, ein berechtigtes Ziel solcher Vereinbarungen zu identifizieren. Selbst wenn ein berechtigtes Interesse vorläge, würde dies allein nicht ausschließen, dass es sich um eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung handelt, da regelmäßig mildere Mittel zur Verfügung stünden, um das gleiche Ziel zu erreichen. Ein Beispiel hierfür könnte die Verwendung von Wettbewerbsverboten zulasten von Mitarbeitern sein, um sie von einem Wechsel abzuhalten. Solche Regelungen fallen nicht unter das Kartellverbot sofern in ihnen keine Vereinbarung zwischen Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt zu sehen ist. Sie sind laut Kommission im Grundsatz zulässig.
Drittens muss der rechtliche und wirtschaftliche Kontext bewertet werden. Diese Prüfung könne allerdings knapp ausfallen und es sei vor allem zu berücksichtigen, ob Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen ein ausreichendes Maß an Wettbewerbsbeeinträchtigung erkennen lassen. Dies liegt laut Kommission zumindest nahe, da der Faktor Arbeit ein grundlegender Produktionsfaktor und die Fähigkeit, Talente anzuziehen, ein maßgeblicher Wettbewerbsparameter ist. Insoweit könnten zwar auch nachgewiesene wettbewerbsfördernde Effekte einer beschränkenden Vereinbarung berücksichtigt werden. Nach Ansicht der Kommission werden diese aber im Allgemeinen nicht so erheblich sein, dass sie etwas an der Einordnung als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung ändern könnten.
Freistellung als notwendige Nebenabrede für solche Vereinbarungen unwahrscheinlich
Obwohl Gehaltsabsprachen und Abwerbeverzichtsvereinbarungen als Nebenabreden zulässig sein können, ist zu berücksichtigen, dass die europäischen Gerichte an die Voraussetzungen dieser Ausnahme ebenfalls einen strengen Maßstab anlegen. Die Parteien müssen nachweisen, dass (i) eine nicht wettbewerbsbeschränkende Hauptvereinbarung existiert, mit der die Nebenabrede (ii) unmittelbar verbunden und (iii) objektiv notwendig für die Umsetzung der Hauptvereinbarung ist und zudem (iv) das mildeste Mittel ist, die eine Umsetzung der Hauptvereinbarung ermöglicht. Insbesondere ist eine Nebenabrede nur dann objektiv notwendig, wenn vergleichbare Unternehmen in einer vergleichbaren Situation ohne die Nebenabrede nicht die nichtbeschränkende Hauptvereinbarung getroffen hätten und die Durchführung des Vorhabens ohne die Beschränkung unmöglich wäre. Die Vereinbarung muss sich auf die unmittelbar beteiligten Mitarbeiter beschränken und darf nur für eine angemessene Dauer und einen hinreichend begrenzten räumlichen Geltungsbereich zur Anwendung kommen. Die Kommission ist der Auffassung, dass häufig die gleiche Wirkung mit weniger wettbewerbsbeschränkenden Mitteln erzielt werden kann, z.B. Vertraulichkeitsvereinbarungen und Wettbewerbsverbote mit bzw. für Mitarbeiter.
Einzelfreistellung mangels wettbewerbsfördernder Effekte bei solchen Vereinbarungen unwahrscheinlich
Die Kommission hält es für unwahrscheinlich, dass Gehaltsabsprachen mit wettbewerbsfördernden Effekten gerechtfertigt werden können. Dasselbe gilt für Abwerbeverzichtsvereinbarungen, obwohl die Kommission selbst ein Beispiel anführt, bei dem solche Vereinbarungen grundsätzlich wettbewerbsfördernde Auswirkungen haben können: Bei dem sog. "Investitionsstau". Unternehmen haben möglicherweise mehr Anreize, in die Fortbildung ihrer Mitarbeiter zu investieren, wenn eine Abwerbeverzichtsvereinbarung existiert, weil die Vereinbarung gewährleistet, dass Wettbewerber diese Investitionen nicht ausnutzen können (sog. Trittbrettfahrerproblematik). Doch selbst für dieses Szenario hält die Kommission wettbewerbsfördernde Effizienzen bestenfalls für ungewiss und betont, dass solche Effekte im Allgemeinen durch mildere Methoden erzielt werden könnten.
Ausblick und praktische Implikationen
Die Wettbewerbsbehörden in der EU beobachten die Arbeitsmärkte schon länger (siehe NOERR insights 2018). Angesichts des Fachkräftemangels wird die Aufmerksamkeit der Wettbewerbsbehörden für diese Märkte in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch weiter zunehmen.
Unternehmen sind gut beraten, auch ihre Personalabteilungen in ihre regelmäßigen Kartellrechts- und Dawn-Raid-Schulungen einzubeziehen. Darüber hinaus sollten Unternehmen prüfen, ob sie über Schutzmaßnahmen verfügen, die sicherstellen, dass sie Vereinbarungen mit anderen Unternehmen, die mit ihnen um Talente konkurrieren, auch unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten prüfen, bevor sie solche Vereinbarungen implementieren.