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Digitaler Zivilprozess? Reallabore-Strategie nimmt Fahrt auf

24.06.2024

Das Bundesministerium der Justiz hat am 11. Juni 2024 den Entwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit veröffentlicht.

Darin ist vorgesehen, die Zivilprozessordnung um einen neuen Teil mit der Überschrift „Erprobung und Evaluierung“ zu ergänzen. Zunächst soll bis einschließlich 2034 schrittweise eine neue Verfahrenskommunikation über digitale Eingabesysteme und Plattformlösungen erprobt werden. Sie soll insbesondere eine zeitgemäße Ende-zu-Ende-Digitalisierung ermöglichen und Massenverfahren mit kleineren Streitwerten effizienter gestalten.

Der Entwurf greift auf das seit längerem von der Bundesregierung entwickelte Instrument des Reallabors zurück, um innovative Ideen gezielt an technisch geeigneten Gerichten unter realen Bedingungen testen zu können. Die örtlich und zeitlich beschränkte Erprobung neuer Verfahrensabläufe und moderner Technologien, zu denen der Entwurf bewusst keine detaillierten Vorgaben enthält, wird evaluiert und der Rechtsrahmen evidenzbasiert fortentwickelt. Auf dieser Grundlage kann das Online-Verfahren anschließend in den allgemein gültigen Rechtsrahmen aufgenommen und bundesweit ausgerollt werden.

Erprobung im Reallabor

Schon der Koalitionsvertrag sieht vor, solche Freiräume zur Erprobung und iterativen Entwicklung von Innovationen zu schaffen, die zugleich regulatorisches Lernen ermöglichen. Das federführende Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz arbeitet an einem übergreifenden Reallabore-Gesetz mit Standards für die Erprobung innovativer Technologien, Produkte, Dienstleistungen und Ansätze. Auch den Aufbau und Pilotbetrieb eines One-Stop-Shops als zentrale Anlaufstelle hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz jüngst ausgeschrieben. Künftig soll für jedes Gesetzgebungsvorhaben die Aufnahme einer Experimentierklausel zur Schaffung von Reallaboren geprüft werden. Noerr begleitet diesen innovativen Gesetzgebungsansatz von Beginn an gutachterlich.

Es ist zu erwarten, dass auf die experimentelle Entwicklung digitaler Verfahren im Zivilprozess und die teils schon umgesetzten neuen Experimentierklauseln etwa zum autonomen Fahren oder der geldwäscherechtlichen Identifizierung viele weitere Rechtsgrundlagen für Reallabore folgen. Auch in der Gesetzgebung der Europäischen Union sind Erprobungen und Entwicklungen unter Realbedingungen als Instrument zur Bewältigung disruptiver Herausforderungen im digitalen Zeitalter angekommen. Erste Rechtsakte wie die KI-Verordnung enthalten ausführliche Bestimmungen zu Reallaboren.

Auch vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf den Gesetzesentwurf.

„Ziviljustiz im Internet“: Wie soll die Erprobung ablaufen?

Das Erprobungsgesetz greift verschiedene von Gerichten und der Anwaltschaft diskutierte Innovationsansätze auf. Hierzu gehören die Klageeinreichung per Online-Tool, kollaboratives Arbeiten in einem „gemeinsamen Prozessdokument“ und die Einreichung von Klageinhalten und Metadaten in einem strukturierten Datensatz und automatisierter Verarbeitung dieser durch das Gericht. Diese Ansätze kombiniert es modular in einem Online-Verfahren.

Das Online-Verfahren soll nur für Geldforderungen anwendbar sein, in denen die Streitwertgrenze für Amtsgerichte nach § 23 Nr. 1 GVG unterschritten wird. Diese beträgt aktuell EUR 5.000, soll nach dem Regierungsentwurf eines Gesetzes u.a. zur Anpassung des Zuständigkeitsstreitwerts der Amtsgerichte vom 5. Juni 2024 jedoch auf EUR 8.000 angehoben werden.

Der Gesetzentwurf zur Entwicklung von Online-Verfahren stellt vor allem Fluggastrechtefälle in den Fokus, es kämen als Anwendungsfälle aber auch andere massenhaft betriebene Verfahren mit niedrigem Streitwert in Betracht, die heute die Gerichte stark belasten. Dies sind beispielsweise Klagen von Verbrauchern wegen unwirksamer Entgeltklauseln, so genannte „Diesel“-Fälle auf Grundlage der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auch Schadenersatzansprüche nach der DSGVO. Ob und in welchem Maße sich Fälle, die sich weniger schematisch und im Sachverhalt komplexer als eine Entschädigung nach der Fluggastrechte-Verordnung darstellen, für Online-Verfahren überhaupt eigen oder hier die prozessual erforderliche Einzelfallbetrachtung verloren geht, kann und muss das Reallabor zeigen.

Die Landesregierungen (bei Subdelegation die Landesjustizverwaltungen) sollen ermächtigt werden, durch Rechtsverordnung Amtsgerichte zu bestimmen, die das Online-Verfahren ab einem bestimmten Zeitpunkt erproben (§ 1123 Abs. 1 ZPO-E). Um Synergie- und Rationalisierungseffekte zu nutzen, soll eine bezirks- und sogar länderübergreifende Konzentration zu zentralen Online-Gerichten möglich sein (§ 1123 Abs. 2, 3 ZPO-E). Die Regelungen der Verordnungsgeber müssen dabei dem Erprobungscharakter hinreichend Rechnung tragen (§§ 1121 Abs. 1, 1122 Abs. 1 Satz 1 ZPO-E).

Bei den Gerichten, die eine Erprobung durchführen, soll in bestimmten Fällen freiwillig das Online-Verfahren gewählt werden können, indem die Klage über ein digitales Eingabesystem erhoben wird (§§ 1122 Abs. 1 Satz 2, 1124 Abs. 2, 3 ZPO-E). Das Eingabesystem soll bundeseinheitlich, z. B. über ein gemeinsames Justizportal des Bundes und der Länder, bereitgestellt werden. Es soll nutzerfreundlich und barrierefrei Informationen anbieten und strukturierte Eingaben abfragen, die im Laufe der Erprobung (weiter-)entwickelt werden können. Prototypen für das Eingabesystem wurden bereits im Rahmen des Projekts „Zugang zum Recht“ von BMJ und DigitalService entwickelt.

Die Klage soll entweder über den herkömmlichen elektronischen Rechtsverkehr oder eine ganz neue Kommunikationsplattform (§ 1129 Abs. 2, 3 ZPO-E) übermittelt werden können. Hier ist der Entwurf offen für neue IT-Lösungen. Die Eingabesysteme und die Kommunikationsplattform sollen zunächst vom Bundesministerium der Justiz unter Einbezug der Länder und beteiligten Gerichte entwickelt und bereitgestellt werden, das sich dafür auf eine Annexkompetenz zur Ressortforschung stützen will. Das konkrete Betriebsmodell soll während der Erprobung entwickelt werden. Die Identifizierung der Klägerinnen und Kläger soll über OZG-Nutzerkonten erfolgen. Anwältinnen und Anwälte sollen sich auch auf der möglichen neuen Kommunikationsplattform mit ihrem Zugang zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) identifizieren können.

Dem Beklagten soll es jedenfalls zu Beginn der Erprobung grundsätzlich freistehen, das Verfahren ebenfalls digital zu führen, oder analog Schriftsätze einzureichen. Digitale Eingabesysteme sollen auch auf Beklagtenseite bundeseinheitlich bereitgestellt werden können (§§ 1125 Abs. 3 Satz 2, 1124 Abs. 2 ZPO-E).

Grundsätzlich verpflichtend soll die Nutzung der digitalen Eingabemaske oder der Kommunikationsplattform bei bestimmten, typischerweise massenhaft betriebenen Verfahren sein, z. B. über Ansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung (§§ 1125 Abs. 2, 1131 Abs. 1 ZPO-E). Andere Anwendungsgebiete mit Nutzungspflicht soll das BMJ mit Zustimmung des Bundesrats bestimmen können, § 1125 Abs. 3 Satz 4 ZPO-E. Hier werden nach der Gesetzesbegründung vor allem solche in den Blick genommen, in denen üblicherweise Legal-Tech Anbieter klagen.

Das erprobende Gericht soll entsprechende digitale Maßnahmen der Prozessleitung treffen können (§§ 1125, 1126 Abs. 5 Satz 1, 1129 Abs. 1 Satz 3 ZPO-E). Auch eine kollaborative Bearbeitung der digitalen Dokumente durch die Verfahrensbeteiligten und das Gericht soll möglich sein (§ 1129 Abs. 1 ZPO-E). Im Sinne eines medienbruchfreien digitalen Verfahrens sollen im Online-Verfahren grundsätzlich Videoverhandlungen stattfinden; zudem sollen andere Fernkommunikationstechnologien erlaubt werden und das erprobende Gericht in geeigneten Fällen auch ohne Zustimmung der Parteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen dürfen (§ 1126 Abs. 1, 3 ZPO-E). Für das Beweisverfahren sollen entsprechend angepasste Regeln gelten (§ 1127 ZPO-E). Soweit das Online-Verfahren im Übrigen nicht mit der Zivilprozessordnung vereinbar ist, soll das Gericht selbst eine angemessene Verfahrensgestaltung treffen (§ 1126 Abs. 4 ZPO-E).

Die gerichtliche Entscheidung schließlich soll im Online-Verfahren elektronisch zugestellt werden, wobei Zustellung und Veröffentlichung die Verkündung ersetzen sollen (§ 1128 ZPO-E).

Vier und acht Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes soll jeweils eine Evaluierung unter Beteiligung der an der Erprobung teilnehmenden Länder erfolgen.

Chancen und Herausforderungen

Mit der vorgeschlagenen Regelung würde die Grundlage für ein großes Reallabor geschaffen, das die pragmatische Erprobung eines digitalen Zivilprozesses und weitere Erprobungsanordnungen im eigens dafür geschaffenen neuen Teil der ZPO verspricht.

Auch wenn abzuwarten bleibt, ob die Regelung so oder ähnlich eine Mehrheit findet und wie sie von den Ländern, Gerichten und Verfahrensbeteiligten angenommen wird, kann der Entwurf schon jetzt als Meilenstein in der Reallabore-Strategie der Bundesregierung bezeichnet werden. Er zeigt exemplarisch, wie der Gesetzgeber mit innovativer Gesetzgebung auch traditionsreiche, komplexe und grundrechtssensible Rechtsgebiete wie das Zivilprozessrecht zielgerichtet an die Digitalisierung und ähnliche Transformationsprozesse anpassen will. Im Rahmen des Reallabors kann das Zivilgericht in der Praxis Tools und Funktionsweisen erproben, die in der anwaltlichen Beratung bei Massenschadensfällen längst zum guten Standard gehören: Digitale Plattformen für Mandanten, durch Legal Tech gestützte Workflows und klare und strukturierte Verfahrensdaten. Ein digitaler Austausch von Verfahrensdaten mit Gerichten ist auch aus anwaltlicher Sicht zu begrüßen, denn dies steigert für Mandanten die Effizienz im Massenverfahren.

Nach grundlegenden Reformüberlegungen unter Einbeziehung von Stakeholdern sollen mit dem Gesetzentwurf zum Online-Verfahren die nötigen regulatorischen Pflöcke einschlagen werden, um einen verfassungsmäßigen, praxistauglichen Testraum abzustecken. In diesem Reallabor sind nur die nötigsten Regeln vorgegeben. Freiwillige Nutzerinnen und Nutzer erproben die Reformidee für sich selbst und den Gesetzgeber. Dieser lässt sich regelmäßig von dem Geschehen berichten und gestaltet bei Bedarf den Testraum kurzfristig um. In diesem iterativen Prozess soll „im laufenden Betrieb“ eine praxistaugliche, allgemein gültige Regulierung entwickelt werden. Anschließend kann der Gesetzgeber sie in den allgemeinen Rechtsrahmen integrieren, indem er die Wände des Testraums einreißt. Bleibt die Erprobung wider Erwarten erfolglos, schließt der Gesetzgeber den Raum ab, ohne dass größerer Schaden entstanden ist. Die Nutzerinnen und Nutzer können auf fortbestehende Regelungen ringsum ausweichen.

Damit wird eine möglichst flexible Erprobung ermöglicht und das Risiko minimiert, bei grundlegenden Reformen nicht praxistaugliche Regelungen zu treffen. Die am Reallabor Beteiligten können eigene Ideen einbringen und Feedback geben. Gleichzeitig müssen sie Eigeninitiative zeigen im Umgang mit noch nicht detailliert ausgearbeiteten Regelungen. Die größte Herausforderung dieser innovativen Gesetzgebung dürfte bei der Evaluation und dem anschließenden Wissenstransfer liegen, wie auch das Beispiel des Entwurfs zeigt. § 1132 ZPO-E lässt z. B. offen, wem die normierten Fragen zu beantworten sind. Die Übermittlung gewonnener Erkenntnisse an Gesetzgebungsorgane – denen natürlich freisteht, wie sie mit diesen Informationen umgehen – könnte in einem allgemeinen Reallabore-Gesetz detailliert geregelt werden.

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