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Rechtsrahmen für Europäische Verbandsklage verabschiedet

25.11.2020

Am 24.11.2020 hat das Europäische Parlament die Richtlinie zur Einführung der Europäischen Verbandsklage angenommen. Den entsprechenden Entwurf über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG hatte die Europäische Kommission im Rahmen ihres New Deal for Consumers bereits vor mehr als zwei Jahren vorgelegt. Deutschland hatte sich seinerzeit bei der Abstimmung im Europäischen Rat enthalten.

Die Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten bei zentralen Fragen der Ausgestaltung der neuen Verbandsklage einen Gestaltungsspielraum ein, der es ermöglicht, nationale Rechtstraditionen angemessen zu berücksichtigen. Die Richtlinie setzt den Mitgliedstaaten damit einen verbindlichen Rahmen für Verbandsklagen und schreibt nicht im Detail vor, wie diese europaweit auszugestalten sind. Damit ist auch Deutschland gehalten, innerhalb der nächsten zwei Jahre, d. h. bis spätestens Ende 2022 eine Verbandsklage, die auf Leistung gerichtet ist, einzuführen. Diese wird weiter reichen müssen, als die erst im November 2018 eingeführte Musterfeststellungsklage (§ 606 ZPO). Die Diskussion über den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland dürfte dadurch in den nächsten zwei Jahren insgesamt neu beleben werden. Die Schwerpunkte der künftigen Diskussion im bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren ergeben sich aus dem folgenden kurzen Überblick über die wesentlichen Vorschriften der neuen Richtlinie (für einen ausführlichen Überblick siehe Schläfke/Lühmann, PHi 2020, 164 ff.).

1. Anwendung in zahlreichen Verbraucher betreffenden Rechtsgebieten

Der Anwendungsbereich der neuen Verbandsklage umfasst neben allgemeinen Verbraucherrechten auch zwingend Verstöße in Bereichen wie Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reisen und Tourismus, Energie, Telekommunikation, Umwelt und Gesundheit sowie Flug- und Bahnreisen (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Anhang I RL). Den Mitgliedstaaten wird zudem die Möglichkeit eingeräumt, den Anwendungsbereich der Kollektivklage über die in der Richtlinie vorgesehenen 66 Rechtsakte hinaus zu erweitern (ErwGr. 18 RL). Dem deutschen Gesetzgeber stünde es also frei, den Anwendungsbereich ähnlich weit zu fassen wie bei der Musterfeststellungsklage, die für sämtliche Ansprüche oder Rechtsverhältnisse gilt.

Ebenso wie die Musterfeststellungsklage ist auch die Europäische Verbandsklage als Instrument zur Durchsetzung von Verbraucherrechten konzipiert. Unternehmen können – geht der nationale Gesetzgeber nicht über die Richtlinie hinaus – von der Klage also keinen Gebrauch machen, sondern nur verklagt werden.

2. Klageziele und Verhältnis zu anderen Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes

Ein Kernstück der Richtlinie ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, über die Vorgaben der Richtlinie 2009/22/EG hinaus nicht nur auf Unterlassungsentscheidungen gerichtete Verbandsklagen zu ermöglichen (vgl. Art. 8 RL), sondern auch Verbandsklagen, mit denen Abhilfe in Form von Schadenersatz, Reparatur, Ersatzleistung, Preisminderung, Vertragsauflösung oder Erstattung des gezahlten Preises begehrt wird (Art. 9 Abs. 1 RL). Die jeweilige Form der Abhilfe muss dem einzelnen Verbraucher ohne eine gesonderte Individualklage zugutekommen (Art. 9 Abs. 6 RL). Damit geht die neue Europäische Verbandsklage aus Sicht des deutschen Rechts in einem entscheidenden Punkt über die bisherigen, nur auf Feststellung und auf Unterlassung gerichteten, kollektiven Klagen hinaus. Dies ist Neuland für die kollektive Rechtsdurchsetzung in Deutschland.

Abhilfeentscheidungen kommen jedoch nur in Betracht, wenn das Unionsrecht oder das nationale Recht die entsprechende Abhilfe auch vorsehen (Art. 9 Abs. 1 RL). Im Falle einer auf Schadensersatz gerichteten Verbandsklage bleibt es also nach dem derzeit geltenden materiellen Recht im Grundsatz dabei, dass für die Ansprüche jeden einzelnen Verbrauchers insbesondere die haftungsbegründende und -ausfüllende Kausalität sowie die Schadenshöhe nachzuweisen sind. Eine Pflicht zur Anpassung des materiellen Rechts besteht also nicht.

Die Richtlinie stellt in Art. 1 Abs. 2 und ErwGr. 11 ausdrücklich klar, dass die Mitgliedstaaten frei darin sind, weitere verfahrensrechtliche Instrumente zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher zu erlassen oder beizubehalten. Musterfeststellungsklagen gemäß § 606 ZPO und Klagen nach dem KapMuG bleiben damit weiterhin möglich. Wünschenswert erscheint, dass der deutsche Gesetzgeber die Umsetzung der Richtlinie zum Anlass nimmt, bestehende kollektive Rechtsschutzinstrumente (insbesondere Klagen gemäß UKlaG und KapMuG sowie Musterfeststellungsklagen) insgesamt zu bewerten und sinnvoll aufeinander abzustimmen, was wohl am besten in einem eigenen Gesetz über Kollektivverfahren umgesetzt wäre.

3. Klagebefugnis qualifizierter Einrichtungen und Notwendigkeit eines Verbrauchermandats

Ebenso wie im Falle von Unterlassungsklagen gemäß der Richtlinie 2009/22/EG und Musterfeststellungsklagen gemäß § 606 Abs. 1 ZPO können auch Verbandsklagen unter der neuen Richtlinie nur von qualifizierten Einrichtungen erhoben werden, die die Interessen der Verbraucher repräsentieren (Art. 4 Abs. 1, Abs. 6 RL). Dabei handelt es sich um Einrichtungen, die Verbandsklagen nur dann erheben können, wenn sie zu diesem Zwecke vorab benannt wurden. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, die sicherstellen, dass die durch Verbandsklagen entstehenden Kosten die qualifizierte Einrichtungen nicht von der Erhebung einer solchen Klage abhalten (Art. 20 RL). Dazu können öffentliche Finanzierungen ebenso gehören wie eine Begrenzung der Gerichtskosten, wie sie für die Musterfeststellungsklage in § 48 Abs. 1 Satz 2 GKG bereits vorgesehen ist.

Wie schon unter der Richtlinie 2009/22/EG können qualifizierte Einrichtungen Verbandsklagen, die auf Unterlassung gerichtet sind (Art. 8 RL), unabhängig davon erheben, ob Verbraucher sich der Klage ausdrücklich oder stillschweigend angeschlossen haben. Ein Mandat der Verbraucher ist also nicht erforderlich.

Für Verbandsklagen, mit denen Abhilfe begehrt wird (Art. 9 RL), enthält die Richtlinie hingegen differenzierte Regelungen: In Bezug auf Verbraucher, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in dem Staat haben, vor dessen Gericht die Verbandsklage erhoben wird, können Mitgliedstaaten entscheiden, ob sie von den Verbrauchern eine aktive Entscheidung dahingehend verlangen, dass diese von der qualifizierten Einrichtung repräsentiert werden wollen (Opt-in-Mechanismus) oder dass sie eine solche Vertretung nicht wünschen (Opt-out-Mechanismus) (Art. 9 Abs. 2, ErwGr. 43 RL). In Bezug auf Verbraucher, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Forumstaates haben, ist dagegen ein Opt-in-Mechanismus zwingend (Art. 9 Abs. 3 RL). Der vom deutschen Gesetzgeber bei der Musterfeststellungsklage aus guten Gründen gewählte Opt-in-Mechanismus, der eine aktive Entscheidung des Verbrauchers erfordert, bleibt damit weiterhin zulässig.

4. Regelungen zum Schutz vor Klagemissbrauch

Uneinigkeit bestand zwischen den beteiligten Akteuren lange Zeit über die Ausgestaltung der Vorschriften zum Schutz vor missbräuchlichen Klagen. Die Entwürfe der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates unterschieden sich in diesem Punkt besonders stark.

a) Differenzierte Anforderungen an qualifizierte Einrichtungen

Auf Initiative des Europäischen Rates enthält die Richtlinie entgegen früherer Entwürfe keine einheitlichen Vorgaben mehr zu den Anforderungen, die qualifizierte Einrichtungen für eine Benennung erfüllen müssen. Vorgesehen ist vielmehr eine Unterscheidung danach, ob die Einrichtung beabsichtigt, sogenannte inländische Verbandsklagen, d. h. Verbandsklagen in dem Mitgliedstaat ihrer Benennung (Art. 3 Nr. 6 RL), oder sogenannte grenzüberschreitende Verbandsklagen, d. h. Verbandsklagen in einem Mitgliedstaat, in dem die Einrichtung nicht benannt wurde (Art. 3 Nr. 7, Art. 6 RL), zu erheben.

Nur für (in der Praxis bisher zu vernachlässigende) grenzüberschreitende Verbandsklagen enthält die Richtlinie in Art. 4 Abs. 3 detaillierte Vorgaben, die für eine Benennung erfüllt werden müssen. Hat ein Mitgliedstaat eine Einrichtung auf dieser Grundlage benannt und in das entsprechende Verzeichnis (Art. 5 RL) eingetragen, ist die Benennung von den Gerichten anderer Mitgliedstaaten grundsätzlich zu akzeptieren. Möglich ist den Gerichten lediglich, ein Überprüfungsverfahren anzustoßen und im Einzelfall zu prüfen, ob der Satzungszweck der qualifizierten Einrichtung die Verbandsklage im konkreten Fall rechtfertigt (Art. 6 Abs. 3 RL).

Für innerstaatliche Verbandsklagen müssen die Mitgliedstaaten geeignete Kriterien festlegen, die mit den Zielen der Richtlinie in Einklang stehen und die identisch sein können, mit den Anforderungen bei grenzüberschreitenden Verbandsklagen (Art. 4 Abs. 4 RL). Hier besteht also ein weiter Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten, der erwarten lässt, dass die Anforderungen an qualifizierte Einrichtungen EU-weit nicht unerheblich voneinander abweichen. Für den deutschen Gesetzgeber besteht kein Anlass, bei der Umsetzung der Richtlinie hinter den bestehenden gesetzlichen Regelungen (vgl. § 4 UKlaG, § 606 ZPO) zurückzubleiben.

b) Kostentragungspflicht der unterlegenen Partei und Ausschluss von Strafschadensersatz

Ein weiteres wesentliches Instrument zum Schutz vor einem Missbrauch der Verbandsklage ist der Grundsatz, dass die qualifizierte Einrichtung bei einer erfolglosen Abhilfeklage die Kosten des beklagten Unternehmens nach Maßgaben der im nationalen Recht vorgesehenen Bedingungen und Ausnahmen zu tragen hat (Art. 12 Abs. 1, ErwGr. 38 RL). Zum Schutz von Unternehmen soll es zudem ausgeschlossen sein, im Wege der Abhilfeklage Strafschadensersatz geltend zu machen (ErwGr. 10, 42 RL).

c) Frühzeitige Abweisung offensichtlich unbegründeter Klagen

Mitgliedstaaten müssen ferner dafür Sorge tragen, dass offensichtlich unbegründete Verbandsklagen in einem möglichst frühen Verfahrensstadium in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht abgewiesen werden können (Art. 7 Abs. 7 RL). Durch diese auf den Vorschlag des Europäischen Parlaments zurückgehende Regelung sollen die Kosten und eine ungerechtfertigte Rufschädigung des beklagten Unternehmens möglichst gering gehalten sowie Verbandsklagen beschleunigt und der Verbraucherschutz gestärkt werden.

d) Finanzierung von Verbandsklagen auf Abhilfeentscheidungen

Die Richtlinie überlässt die Entscheidung darüber, ob Dritte eine auf Abhilfe gerichtete Verbandsklage finanzieren dürfen, dem jeweiligen nationalen Recht (Art. 10 Abs. 1 RL). Soweit eine Drittfinanzierung zugelassen wird, muss sichergestellt werden, dass Interessenkonflikte vermieden werden und der Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher „nicht aus dem Fokus gerät“ (Art. 10 Abs. 2 RL).

5. Einfluss von Verbandsklagen auf Verjährungsfristen

Laufende Verjährungsfristen müssen nach Art. 16 RL durch die Erhebung einer Verbandsklage gehemmt oder unterbrochen werden. Bei Unterlassungsklagen wird dadurch – entgegen der bisherigen deutschen Rechtslage – die Verjährung gehemmt, obgleich es an einem Verbrauchermandat fehlt. Der Eintritt von Rechtssicherheit wird damit deutlich hinausgeschoben. Bei kollektiven Leistungsklagen könnte der deutsche Gesetzgeber hingegen den Eintritt von Rechtssicherheit durch einen Opt-in-Mechanismus herbeiführen, bei dem die Hemmung der Verjährung wie bisher (§ 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB) an eine ausdrückliche Erklärung des Verbrauchers anknüpft.

6. Vergleiche in Verbandsklage auf Abhilfe

Die Richtlinie gibt in ErwGr. 53 ausdrücklich das Ziel aus, kollektive Vergleiche, durch die Verbraucher Abhilfe erhalten sollen, im Rahmen von Verbandsklagen auf Abhilfe zu fördern. Im Einklang mit diesem Ziel können die qualifizierte Einrichtung und der Unternehmer dem Gericht einen Vergleichsvorschlag unterbreiten. Zudem ist das Gericht berechtigt, die Parteien zum Abschluss eines Vergleichs auffordern (Art. 11 Abs. 1 RL).

Im Einklang mit dem international üblichen und auch in § 611 ZPO sowie § 18 KapMuG normierten Ansatz unterliegt der von den Parteien unterbreitete Vergleichsvorschlag einer Prüfung durch das Gericht (Art. 11 Abs. 2 RL). Das Gericht muss die Vereinbarkeit des Vergleichs mit zwingenden Vorschriften des nationalen Rechts sowie auf seine Durchsetzbarkeit prüfen. Optional können die Mitgliedstaaten zudem vorsehen, dass das Gericht die Bestätigung eines Vergleichs ablehnt, wenn es diesen als „unfair“ erachtet. Inhaltlich läuft dies auf eine Angemessenheitsprüfung hinaus, wie sie im deutschen Recht bereits in § 611 ZPO und § 18 KapMuG geregelt ist.

7. Beweismittel

Der Richtliniengeber misst Beweismitteln eine zentrale Rolle für die Erfolgsaussichten von Verbandsklagen bei (ErwGr. 68 RL) und widmet der Frage der Offenlegung von Beweismitteln konsequenterweise in Art. 18 RL auch eine eigene Regelung.

Danach muss dem Gericht nach Maßgabe der nationalen Verfahrensvorschriften die Befugnis eingeräumt werden, anzuordnen, dass das beklagte Unternehmen oder Dritte auf Antrag der qualifizierten Einrichtung Beweismittel offenlegen, wenn die qualifizierte Einrichtung alle unter zumutbarem Aufwand zugänglichen Beweismittel vorgelegt hat, die ausreichen, um die Verbandsklage zu stützen, vorausgesetzt die qualifizierte Einrichtung hat die entsprechenden Beweismittel benannt (Art. 18 Satz 1 RL). Aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit muss eine vergleichbare Anordnungsbefugnis auch zugunsten des beklagten Unternehmens bestehen (Art. 18 Satz 2 RL).

Welche Anforderungen Art. 18 RL an die Mitgliedstaaten konkret stellt, ist insbesondere vor dem Hintergrund von ErwGr. 68 RL nicht ganz eindeutig. Dort wird davon gesprochen, dass die qualifizierte Einrichtung ein „Recht“ auf Offenlegung erhalten müsse. Vorzugswürdig erscheint, diese in Art. 18 RL nicht aufgegriffene Formulierung dahingehend zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten keine materiellen oder prozessualen Rechte schaffen müssen, die nicht ohnehin schon im nationalen Recht existieren. Hierfür spricht zum einen die Klarstellung in ErwGr. 68 RL, wonach über die Notwendigkeit, den Umfang und die Verhältnismäßigkeit der Offenlegungsanordnung im Einklang mit dem nationalen Verfahrensrecht zu entscheiden ist. Zum anderen werden auf diesem Weg Friktionen mit den bereits im materiellen Recht vielfach vorgesehenen Beweislastregelungen vermieden.

8. Nächste Schritte

Die Richtlinie tritt 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft (Art. 25 RL). Die Mitgliedstaaten haben anschließend 24 Monate Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, und weitere sechs Monate, um sie anzuwenden (Art. 24 RL). Es ist daher damit zu rechnen, dass die Verbandsklage in Deutschland spätestens Ende 2022 eingeführt und spätestens Mitte 2023 in Kraft treten wird.


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