Parlament beschließt Änderungen des Infektionsschutzgesetzes
Bundestag und Bundesrat haben am 18.11.2020 Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beschlossen. Die Neuregelungen umfassen insbesondere eine neue Rechtsgrundlage für Corona-Beschränkungen sowie eine Präzisierung der Regelung zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Der Gesetzgeber reagiert damit auf verfassungsrechtliche Bedenken, die in der Öffentlichkeit und zuletzt auch von einzelnen Gerichten geäußert wurden. Die Gerichte hatten zwar weit überwiegend die Maßnahmen des November-Lockdown aufrechterhalten, doch dabei immer stärker Zweifel an der Tragfähigkeit der bisherigen Verordnungsermächtigung betont (vgl. bereits unsere News vom 06.11.2020).
Wesentliche Änderungen des Infektionsschutzgesetzes
In der Neufassung des § 5 IfSG werden erstmalig Voraussetzungen festlegt, wann eine epidemische Lage von nationaler Tragweite besteht und somit umgekehrt auch, wann eine solche Lage nicht mehr vorliegt. Während der Dauer einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite ist der Bundestag regelmäßig über die Infektionslage zu informieren.
Im Zentrum der Novelle steht die Schaffung eines neuen § 28a IfSG als Rechtsgrundlage für besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19. § 28a IfSG konkretisiert § 28 IfSG und enthält in Abs. 1 einen detaillierten Katalog an Maßnahmen, die während einer durch den Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite (§ 5 Abs. 1 IfSG) ergriffen werden können. Für die meisten Maßnahmen sieht § 28a IfSG keine weiteren Voraussetzungen vor. Lediglich für die Untersagung von Versammlungen und religiösen Zusammenkünften sowie für Ausgangsbeschränkungen und die Untersagung des Betretens von Pflegeeinrichtungen ist eine erhebliche Gefährdung der Verbreitung des Virus erforderlich.
Überdies müssen die ergriffenen Maßnahmen gemäß § 28a Abs. 3 IfSG auf den Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems ausgerichtet sein. Ebenfalls in § 28a Abs. 3 IfSG wird eine Systematik, die sich an den Inzidenzwerten von 35 und 50 infizierten Personen je 100.000 Einwohnern orientiert, erstmalig gesetzlich verankert. Bei einem Überschreiten einer Inzidenz von 50 sind umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen, während bei einer Inzidenz von 35 breit angelegte Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, die eine schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen.
Auf die Verordnungsgeber wirken sich insbesondere zwei weitere Neuerungen aus: Nach § 28a Abs. 5 IfSG sind Rechtsverordnungen, die Corona-Schutzmaßnahmen regeln, anders als bisher stets mit einer Begründung zu versehen und zeitlich zu befristen. Als grundsätzliche Geltungsdauer für Verordnungen wird der Zeitraum von vier Wochen festgelegt.
Weiterhin verfassungsrechtliche Zweifel an der Verordnungsermächtigung?
Die jetzt verabschiedeten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes, insbesondere die Einfügung des neuen § 28a IfSG, berücksichtigen wesentliche Kritikpunkte, die zuvor an der ursprünglichen Entwurfsfassung durch juristische Sachverständige während der Anhörung im parlamentarischen Prozess geäußert wurden. Dennoch sind nicht alle Zweifel ausgeräumt, und den neuen Vorschriften ist das durch Eile geprägte Gesetzgebungsverfahren anzusehen.
Das betrifft zum einen die katalogartige Aufzählung der unterschiedlichen Maßnahmen in § 28a Abs. 1 IfSG, die eine Unterscheidung hinsichtlich Tatbestandsvoraussetzung und Rechtsfolge anhand der Eingriffsintensität und der betroffenen Grundrechte vermissen lässt. Aufgrund des Parlamentsvorbehalts ist der Gesetzgeber verpflichtet, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und dies nicht der Exekutive zu überlassen. In diesem Punkt stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber seiner Aufgabe der Abwägung zwischen der Schwere des jeweiligen Grundrechtseingriffs und dem Zweck der Pandemiebekämpfung nachgekommen ist, wenn er Maßnahmen, die ganz unterschiedliche Grundrechte berühren und eine unterschiedliche Eingriffsintensität aufweisen, von den gleichen Voraussetzungen abhängig macht.
Mit Blick auf die Anforderungen an die Bestimmtheit der Vorschriften könnte es sich als nicht ausreichend erweisen, die möglichen Maßnahmen aufzulisten, ohne sie näher zu definieren. Indem § 28a Abs. 1 vor dem Maßnahmenkatalog das Wort „insbesondere“ enthält, zeigt die Regelung zudem auf, dass neben den aufgelisteten Maßnahmen auch andere, nicht in der Auflistung enthaltende Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung ergriffen werden können. Dies bietet den Landesregierungen weiterhin einen großen Spielraum beim Erlass von Corona-Schutzverordnungen, der für erforderlich gehalten wird, um auf ein dynamisches Infektionsgeschehen effektiv zu reagieren. Offen ist allerdings, inwieweit eine nicht abschließende Auflistung von möglichen Maßnahmen einen Beitrag dazu leistet, dem Parlamentsvorbehalt gerecht zu werden.
Zum anderen bleibt offen, wie sich die vom Gesetzgeber getroffene Abstufung nach umfassenden, breit angelegten und unterstützenden Schutzmaßnahmen in Bezug auf Neuinfektionszahlen auf die Wahl der aufgelisteten Maßnahmen auswirkt. Die Formulierung der Vorschrift lässt es unbeantwortet, ob bestimmte Maßnahmen erst ab einer gewissen Inzidenzschwelle ergriffen werden können und darunter ausgeschlossen sind.
Letztlich bleibt abzuwarten, wie die Gerichte die Tragfähigkeit der neuen Verordnungsermächtigung beurteilen werden. Entscheidend wird sein, ob sie ihren zuvor geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken in Fragen des Parlamentsvorbehalts und der Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage ausreichend Rechnung getragen sehen.