Leiharbeit – Abweichende Regelungen zur Überlassungshöchstdauer durch Tarifverträge
Immer wieder hat sich die Gerichtsbarkeit mit der Überlassungshöchstdauer bei der Arbeitnehmerüberlassung zu befassen. Zahlreiche Urteile des BAG allein aus dem letzten Jahr zeigen, dass noch viele Detailfragen zu klären sind. Erst im Oktober 2024 wandte sich das BAG im Rahmen mehrerer Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH, um klären zu lassen, wie sich ein Betriebsübergang auf Entleiherseite auf die Berechnung der Überlassungshöchstdauer auswirkt. Wir berichteten darüber in unserem Insight vom 18.10.2024.
Zeitgleich hatte das BAG in einem Parallelverfahren zu urteilen (BAG, Urteil v. 01.10.2024 - 9 AZR 270/23), in dem es auf die Betriebsübergangsthematik nicht ankam. Die Urteilsbegründung liegt nun vor.
Sachverhalt
Ein Leiharbeitnehmer war seit 2010 durchgehend bei einem Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie eingesetzt. Der Entleiherbetrieb war zwischenzeitlich infolge eines Betriebsübergangs auf einen anderen Inhaber übertragen worden.
Der Leiharbeiter begehrte die Feststellung, dass wegen Überschreitens der zulässigen Überlassungshöchstdauer seit dem 01.04.2021 ein Arbeitsverhältnis zum Entleiher bestehe. Das BAG bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts und entschied entgegen dem Berufungsgericht im Sinne des Arbeitnehmers.
Im Mittelpunkt der Feststellungen des BAG standen tarifvertragliche Bestimmungen, die im Geltungsbereich der Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie NRW unter Nutzung der durch § 1 Abs. 1b AÜG eröffneten Spielräume eine Verlängerung der Überlassungshöchstdauer von den gesetzlich festgelegten 18 Monaten auf 48 Monate erlaubten; soweit tariflich zulässig, auch durch Betriebsvereinbarung.
Der Entleiher hatte eine solche Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die eine Überlassungshöchstdauer von 48 Monaten für den Produktionsbetrieb sowie dazugehörige „Hilfs- und Nebenbetriebe“ festlegte. Die Arbeitgeberseite und auch das Landesarbeitsgericht als Berufungsinstanz waren noch davon ausgegangen, dass diese Überlassungshöchstdauer auch auf den Kläger anwendbar sei. Ein Irrtum, wie das BAG nun klarstellte.
Die Entscheidung des BAG
Denn der Arbeitnehmer war nicht in der Produktion, sondern in der nachgelagerten Logistik beschäftigt. Damit, so das BAG, war er außerhalb des Anwendungsbereichs des Tarifvertrages beschäftigt.
Der fachliche Anwendungsbereich erfasste zwar nicht nur Betriebe der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie sowie der kunststoffverarbeitenden Industrie, sondern auch Hilfs- und Nebenbetriebe sowie Montagestellen, sofern der Arbeitgeber einem Mitgliedsverband des Verbands Metall NRW (Verband der Metall- und Elektro-Industrie Nordrhein-Westfalen e.V.) angehört. Die Ausweitung des Geltungsbereichs eines Tarifvertrages auf – selbst nicht tarifgebundene - „Hilfs- und Nebenbetriebe“ wird auch gerichtlich grundsätzlich anerkannt (vgl. BAG v. 1. April 1987 – 4 AZR 77/86). Das gelte aber – wie das BAG nun klarstellt - nicht für nachgelagerte Betriebe
- der Logistik,
- der Verpackung und
- des Vertriebes
in
- der Industrie und
- dem produzierenden Gewerbe.
Ob diese Tätigkeiten in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Produktion – hier auf dem gleichen Betriebsgelände – stattfinden, spiele keine Rolle. Die Logistik, die Verpackung und der Vertrieb seien zwar Teil der Wertschöpfungskette, hätten jedoch mit der Produktion nichts zu tun. Entscheidend ist: Das Produkt sei – wenn auch unverpackt und nicht vertriebsfähig – bereits vollständig konstruiert. Nachgelagerte Arbeitsschritte können demnach nicht von der Ausnahmeregelung einer tarifvertraglichen Ausweitung des Geltungsbereiches betroffen sein. Hier seien andere Tarifpartner zuständig, eigene Regelungen zu treffen. Der Tarifvertrag entfaltet demnach bereits keine Wirkung für die vom Leiharbeitnehmer ausgeübte Tätigkeit. Mangels Anwendbarkeit des Tarifvertrages greift auch die Betriebsvereinbarung nicht ein.
Die Überlassungshöchstdauer war danach in jedem Fall seit Januar 2020 überschritten. Damit greife die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Nr. 1b iVm. § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG.
Wann ist eine Ausweitung möglich?
Das BAG hatte in seiner bisherigen Rechtsprechung Betriebsteile und Tochtergesellschaften der Logistik, der Verpackung und des Vertriebes im Einzelhandel als „Hilfs- und Nebenbetrieb“ qualifiziert, auf die entsprechende tarifliche Regeln ausgeweitet werden dürfen. Entscheidend war hier, ob eine Hilfeleistung für den Vertrieb von Waren erbracht wird. Das ist im vertriebsorientierten Einzelhandel naheliegender als in der Industrieproduktion.
Bedeutung für die Praxis
Das Urteil zeigt einmal mehr, dass die Arbeitnehmerüberlassung in Deutschland einen schweren Stand hat. Das Urteil dürfte gerade in der Industrie für Aufruhr sorgen. Überproportional oft wird hier von der Leiharbeit Gebrauch gemacht. Ähnliche Regelungen finden sich in fast allen regionalen Tarifverträgen. Viele Unternehmen haben sich daraufhin mit den Arbeitnehmervertretungen auf entsprechende Ausweitungen der Überlassungshöchstdauer geeinigt. Diese Regelungen sind für weite Teile der Wertschöpfungskette – so denn keine anderweitigen Tarifverträge eine solche Ausnahmeregelung legitimieren – nach der hier besprochenen BAG-Entscheidung möglicherweise unwirksam. Entleiher sind mithin aufgefordert, unverzüglich zu prüfen, ob auch sie von dieser Entscheidung betroffen sind und ob die Situation ggf. unter Mitwirkung der Tarif-/Betriebspartner geheilt werden kann.
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