Whistleblower-Richtlinie – da war doch was?
Der europäische Gesetzgeber hat am 23. Oktober 2019 die Richtlinie (EU) 2019/1937 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (sog. Whistleblowing-Richtlinie, nachfolgend: „WB-RL“), erlassen, die am 16.12.2019 in Kraft getreten ist. Ihre Vorgaben zur Implementierung von entsprechenden Meldesystemen (sog. Hinweisgeber-Systeme) und für einen verbesserten Hinweisgeberschutz haben die EU-Mitgliedsstaaten grundsätzlich innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umzusetzen. Diese Umsetzungsfrist läuft nun in Kürze am 17.12.2021 ab. Über einen ersten – nicht offiziellen – Gesetzesentwurf des BMJV, über den sich die (derzeit noch kommissarisch regierenden) Koalitionspartner SPD und CDU/CSU allerdings nicht einigen konnten, ist das nationale Gesetzgebungsverfahren bisher leider nicht hinausgekommen. Die künftige Bundesregierung aus SPD, FDP und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN verweist in ihrem am 24.11.2021 vorgelegten Koalitionsvertrag allein darauf, dass sie die WB-RL „rechtssicher und praktikabel“ umsetzen wollen, ohne dies indes (zeitlich) näher zu spezifizieren.
Die Umsetzung der WB-RL wird – so viel steht bereits heute fest – den künftigen Umgang mit Hinweisgebern in der Praxis nachhaltig beeinflussen und prägen. Daher ist es umso „bitterer“ für Unternehmen, dass der deutsche Gesetzgeber hier bisher nicht entscheidend aktiv geworden ist. Denn Unternehmen sind hierdurch einer unsicheren Rechtslage ausgesetzt und sollten sich bereits intensiv mit den Voraussetzungen und Anforderungen der WB-RL auseinandersetzen, um nicht „kalt erwischt“ zu werden.
In einer siebenteiligen Beitragsreihe beleuchten wir daher aus aktuellem Anlass die Richtlinienvorgaben noch einmal im Detail, um Unternehmen einen praxistauglichen Leitfaden für die Implementierung und den Betrieb von Hinweisgeber-Systemen sowie für den zukünftigen Umgang mit Hinweisgebern an die Hand zu geben. Dafür werden
- nach einer überblicksartigen Vorstellung der Zielrichtung sowie des wesentlichen Inhalts der WB-RL (heutiger Teil 1)
- die Vorgaben zur Einrichtung interner Hinweisgeber-Systeme (Teil 2 am 01.12.2021),
- die Zulässigkeit der Etablierung konzernweiter Meldekanäle (sog. „Konzernprivileg“) (Teil 3 am 03.12.2021) sowie
- die Anforderungen für einen hohen Hinweisgeberschutz (Teil 4 am 08.12.2021)
- mit einem besonderen Blick auf die zulasten von Unternehmen in der WB-RL vorgesehene Beweislastumkehr (Teil 5 am 10.12.2021)
näher dargestellt und erörtert. Abgeschlossen wird die Beitragsreihe
- mit den Rechtsfolgen einer nicht rechtzeitigen Umsetzung der WB-RL (Teil 6 am 15.12.2021) sowie
- einer abschließenden Zusammenfassung (Teil 7 am 17.12.2021).
Der vorliegende erste Teil der Beitragsreihe widmet sich daher dem Ziel der WB-RL, dem Umfang der Harmonisierung sowie einer überblicksartigen Darstellung der Vorgaben zur verpflichtenden Einrichtung interner und externer Meldekanäle sowie zum Schutz für Hinweisgeber.
A. Ziel und Harmonisierungsumfang
1. Ziel der WB-RL
Das Ziel der WB-RL stellt der Unionsgesetzgeber gleich zu Beginn klar (Art. 1 WB-RL): die verbesserte Durchsetzung des Unionsrechts und der Unionspolitik. Hierdurch will der Unionsgesetzgeber in besonders sensiblen und störanfälligen sowie allgemein bedeutsamen Rechts- und Lebensbereichen die Einhaltung unionsrechtlicher Vorgaben sicherstellen, um die Marktstabilität und eine hohe Lebensqualität in der gesamten EU zu gewährleisten.
Dieses Ziel will der Unionsgesetzgeber durch ein hohes Schutzniveau für Hinweisgeber erreichen, weil meldewillige Personen häufig diejenige Kenntnis von internen Missständen haben, die gerade den Behörden (wie etwa die Enthüllungen von Edward Snowden oder die Panama Papers sehr illustrierend vor Augen geführt haben) und häufig auch der Unternehmensleitung fehlt, aber von einer Meldung aus Angst vor Konsequenzen absehen. Ihre Meldebereitschaft will der Unionsgesetzgeber durch eine verpflichtende Einrichtung interner und externer Hinweisgeber-Systeme als Anlaufstellen für Hinweisgeber einerseits und durch einen hohen Schutz für Hinweisgeber vor Repressalien (etwa vor einer Kündigung oder Versetzung) andererseits fördern.
2. Mindestharmonisierung
Der Unionsgesetzgeber hat sich grundsätzlich für eine Mindestharmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts entschieden. Die Richtlinienvorgaben führen also zu keiner vollvereinheitlichen Rechtsangleichung in den Mitgliedstaaten der EU, sondern legen allein Mindeststandards fest. Damit bleibt im Anwendungsbereich der WB-RL ein Spielraum für eine Schutzintensivierung durch die Mitgliedstaaten. Sie kann beispielsweise in der gesetzlich oktroyierten Entgegennahme und Weiterverfolgung anonymer Hinweise bestehen, die in der WB-RL weder für interne noch für externe Meldekanäle verbindlich vorgeschrieben ist.
Obwohl der deutsche Gesetzgeber damit zwar einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung der WB-RL hat, sind die nachfolgend dargestellten Mindestvorgaben für Fallkonstellationen im Anwendungsbereich der WB-RL zwingend in deutsches Recht umsetzen:
B. Anwendungsbereich der WB-RL
1. Sachlicher Anwendungsbereich
Aufgrund der begrenzten unionsrechtlichen Gesetzgebungskompetenz ist der sachliche Anwendungsbereich der WB-RL (Art. 2 Abs. 1 WB-RL) auf bestimmte Meldegegenstände beschränkt, d. h. die Richtlinienvorgaben greifen nur für bestimmte Fallkonstellationen des Whistleblowings. Erfasst wird die Meldung gegenüber internen und externen Meldestellen sowie die öffentliche Informationsweitergabe von Verstößen (hierunter fällt neben Rechtsverstößen auch rechtsmissbräuchliches Verhalten – nicht aber unethisches oder unmoralisches Fehlverhalten) in abschließend in der WB-RL aufgezählten unionsrechtlichen sektor- und bereichsbezogenen Regulierungsbereichen, wie bspw.
- Öffentliches Auftragswesen
- Produktsicherheit und -konformität
- Verkehrssicherheit
- Umweltschutz
- Verbraucherschutz.
Im Rahmen der Richtlinienumsetzung könnte der deutsche Gesetzgeber den Geltungsbereich des Umsetzungsgesetzes allerdings auch auf weitere, außerhalb dieses Anwendungsbereichs der WB-RL liegende Rechtsbereiche erstrecken, ihn also etwa auch auf Verstöße gegen sonstiges nationales Recht ausdehnen. Hiermit muss gerechnet werden, da die künftigen Koalitionspartner SPD, FDP und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN in ihrem am 24.11.2021 vorgelegten Koalitionsvertrag angekündigt haben, Hinweisgeber nicht nur bei einer Meldung eines Verstoßes gegen EU-Recht, sondern auch bei einer Meldung von „erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt“ schützen zu wollen.
Es gilt überdies zu beachten, dass die WB-RL bestimmte Informationen per se aus dem Anwendungsbereich ausnimmt (Art. 3 WB-RL) – etwa solche über nationale Sicherheitsinteressen oder solche, die berufsspezifische Verschwiegenheitspflichten betreffen. Letzteres gilt allerdings nur für solche Informationen, die der ärztlichen oder anwaltlichen Schweigepflicht unterliegen. Personen, für die sonstige berufsbedingte Schweigepflichten gelten, etwa Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, fallen hingegen in den Anwendungsbereich der WB-RL, so dass sich diese im Zweifel auf den weitgehenden Schutz der WB-RL berufen können.
2. Persönlicher Anwendungsbereich
Der persönliche Anwendungsbereich der WB-RL (Art. 4 WB-RL) ist im Gegensatz zum begrenzten sachlichen Anwendungsbereich weit gefasst. Neben Arbeitnehmern (und Beamten) fallen auch Lieferanten und Auftragnehmer (inkl. deren Beschäftigten) sowie Anteilseigner und Personen, die dem Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan eines Unternehmens angehören (also z. B. Geschäftsführer einer GmbH) in ihren Anwendungsbereich. Dies bedeutet, dass sich auch unternehmensfremde Personen, die Betriebsinterna durch ihre berufliche Zusammenarbeit mit einem Unternehmen erfahren, auf den Schutz der WB-RL berufen können.
Unternehmen sollten sich im Umgang mit Hinweisgebern daher zukünftig nicht mehr nur auf ihre Mitarbeiter fokussieren, sondern eine breitere Personengruppe in den Blick nehmen.
C. Pflicht zur Einrichtung interner und externer Hinweisgeber-Systeme
Wesentlicher Bestandteil der WB-RL und Ausganspunkt einer großen Herausforderung für die unternehmerische Praxis ist die vorgesehenen Pflicht zur Einrichtung und zum Betrieb interner und externer Hinweisgeber-Systeme (Art. 8 WB-RL). Der Unionsgesetzgeber schreibt grundsätzlich eine Pflicht zur Einrichtung von Meldekanälen für folgende Unternehmen/Stellen vor:
- für Unternehmen mit 50 oder mehr Arbeitnehmern
- für alle juristischen Personen des öffentlichen Sektors (einschließlich aller Stellen, die im Eigentum oder unter Kontrolle solcher Personen stehen)
- für die Mitgliedstaaten im Hinblick auf (externe) „Hinweisgeber-Behörden“.
Die internen Meldekanäle müssen bestimmte (Mindest-)Voraussetzungen (Art. 9 WB-RL) erfüllen: Sie müssen zunächst so sicher konzipiert sein, dass die Vertraulichkeit der Identität des Hinweisgebers gewährleistet wird. Die Möglichkeit zur anonymen Hinweisabgabe wird hierfür allerdings nicht verlangt, vielmehr stellt es die WB-RL ausdrücklich in das nationalstaatliche Gestaltungsermessen, ob auch anonyme Meldewege vorgesehen werden müssen (Art. 6 Abs. 2 WB-RL). Unabhängig davon, ob der nationale Gesetzgeber von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, kann ein Unternehmen durch die Einführung anonymer Meldewege initiativ die Beschreitung interner Meldevorgänge für potenzielle Hinweisgeber attraktiver gestalten.
Überdies muss innerhalb von sieben Tagen eine Bestätigung an den Hinweisgeber über den Eingang seiner Meldung und spätestens drei Monate nach dieser Bestätigung eine Rückmeldung an den Hinweisgeber über ergriffene Folgemaßnahmen erfolgen. Solche können etwa die Veranlassung interner Ermittlungen, die Weitergabe der Informationen an externe Behörden oder auch die Einstellung der Verfolgung des Hinweises aufgrund mangelnder Beweise darstellen. Unternehmen haben zudem klare und leicht zugängliche Informationen über die Nutzung interner wie externer Hinweisgeber-Systeme vorzusehen und müssen unter Wahrung der Vertraulichkeit alle eingehenden Hinweise dokumentieren.
Die Richtlinienvorgaben zur Einrichtung und zum Betrieb interner Hinweisgeber-Systeme werden in Teil 2 und Teil 3 dieser Beitragsreihe näher beleuchtet werden.
D. Schutz für Hinweisgeber
Ein Kernanliegen der WB-RL ist darüber hinaus ein hoher Schutz für Hinweisgeber vor Repressalien. Melden Hinweisgeber erlangte Informationen intern und extern oder auf direktem Weg extern, gewährt ihnen der Unionsgesetzgeber einen Anspruch auf Schutz (Art. 6 WB-RL), sofern sie „hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die gemeldeten Informationen über Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprachen und dass diese Informationen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fielen“. Externe und interne Meldungen stehen also gleichberechtigt nebeneinander. Zusätzlich zur internen oder zur externen (staatlichen) Meldung sieht die WB-RL vor, dass Hinweisgeber sich unter bestimmten Voraussetzungen, etwa im Falle einer erfolglosen internen und/oder externen Meldung, an die Öffentlichkeit wenden dürften, ohne Repressalien fürchten zu müssen (Art. 15 WB-RL).
Liegen diese Schutzvoraussetzungen vor, so verbietet die WB-RL Repressalien jeder Art (Art. 19 WB-RL), wie etwa die Suspendierung oder Entlassung, die Degradierung oder die Versagung einer Beförderung, die Versetzung, eine negative Leistungsbeurteilung, eine Abmahnung oder sonstige Diskriminierung. Zusätzlich zu diesem Verbot von Repressalien, sieht die WB-RL weitere Schutzmaßnahmen für Hinweisgeber vor (Art. 20 und 21 WB-RL), etwa umfassende und unabhängige, einfach und kostenlos zugängliche Informationen und Beratung für Hinweisgeber sowie eine umfassende Haftungsfreistellung. Diese Schutzmaßnahmen können nicht in einem Arbeitsvertrag individualvertraglich abbedungen werden (Art. 24 WB-RL). Erleidet der Hinweisgeber entgegen des Verbots Repressalien, hat er einen Anspruch auf Entschädigung. Dieser umfasst neben Wiederherstellung und finanziellem Ausgleich auch die Zahlung von Schmerzensgeld.
Teil 4 und Teil 5 dieser Beitragsreihe widmen sich detailliert dem hier exemplarisch dargestellten Schutz für Hinweisgeber sowie der Beweislastumkehr (Art. 21 Abs. 5 WB-RL) und ihre praktischen Herausforderungen für Unternehmen.
Lesen Sie hierzu auch die anderen Teile unserer Beitragsreihe:
- Teil 2: Whistleblower-Richtlinie: Interne Meldestellen – Einrichtungspflicht und Gestaltungsspielräume
- Teil 3: Whistleblower-Richtline: „Konzernprivileg“ – Zentrale Hinweisgeber-Systeme im Lichte der WB-RL
- Teil 4: Schutz von Whistleblowern – Herausforderung für Unternehmen im zukünftigen Umgang mit Whistleblowing
- Teil 5: Beweislastumkehr bei arbeitsdisziplinarischen Maßnahmen gegenüber Hinweisgebern – Konsequenzen für die Praxis
- Teil 6: Nichtumsetzung der Whistleblower-Richtlinie – Folgen für Unternehmen?
- Teil 7: Whistleblower-Richtlinie – Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse für die Praxis