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Verfassungs­rechtliche Bedenken bei geplantem Vergesellschaftungs­rahmengesetz für Wohnungs­unternehmen

17.07.2023

Am 28. Juni 2023 hat die Kommission zum „Volks­entscheid über einen Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetz­entwurfs durch den Senat zur Vergesell­schaftung der Wohnungs­bestände großer Wohnungs­unternehmen“ ihren Abschluss­­bericht vorgelegt. Darin beschäftigt sich die Experten­kommission mit der Frage, ob eine Vergesell­schaftung von Wohnungs­­unternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen durch das Land Berlin rechtlich möglich wäre und wie diese gestaltet werden könnte. Den wesentlichen Inhalt des Abschluss­berichts stellen wir im Folgenden vor. Der Senat von Berlin plant, aufbauend auf dem Abschluss­bericht ein Vergesellschaftungs­rahmen­gesetz zu beschließen, das er verfassungs­­gerichtlich überprüfen lassen möchte. Um die Verfassungs­­konformität eines Vergesellschaftungs­rahmen­gesetzes substantiiert beurteilen zu können, bleibt seine konkrete Ausgestaltung abzuwarten. Sollte seine Ausgestaltung allerdings auf den wesentlichen Rechts­annahmen der Kommissions­­mehrheit aufbauen, wäre es verfassungs­rechtlich angreifbar.

A. Hintergrund

Am 26. September 2021 votierte eine Mehrheit von 57,6 Prozent in Berlin für den von der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ initiierten Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnungs­beständen großer Wohnungs­unternehmen. Daraufhin hatte sich der rot-grün-rote Senat darauf verständigt, eine Experten­­kommission zur Klärung der verfassungs­rechtlichen Zulässigkeit der Vergesell­schaftung von Wohnungs­beständen großer Wohnungs­unternehmen einzusetzen. Die Kommission war auch berufen, rechtssichere Wege der Vergesell­schaftung zu erkunden und Empfehlungen auszusprechen. Die am 29. März 2022 eingesetzte Kommission bestand aus 13 Mitglieder, von denen je drei durch die Parteien des rot-grün-roten Senats bestimmt wurden sowie drei von der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Den Vorsitz hatte Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Justiz a.D.

B. Wesentlicher Inhalt des Kommissionsberichts

Schwerpunkte des 156-Seiten-langen Kommissions­bericht bilden die Gesetzgebungs­kompetenz des Landes Berlin, die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 15 Satz 1 GG und die Höhe der nach Art. 15 Satz 2 GG zu gewährenden Entschädigung.

I. Gesetzgebungskompetenz

Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass das Land Berlin die Kompetenz hat, die Vergesellschaftung großer Wohnungs­unternehmen zu regeln. Der Bund hat von der einschlägigen konkurrierenden Gesetzgebungs­kompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG zur Überführung von Grund und Boden, von Naturschätzen und Produktions­­mitteln in Gemein­eigentum oder in andere Formen der Gemein­wirtschaft keinen Gebrauch gemacht, sodass das Land die volle Regelungs­­kompetenz innehat. Andere Regelungen des sozialen Mietrechts, wie die Mietpreise, entfalten keine Sperrwirkung für Vergesellschaftungen durch das Land, da sie auf einem anderen Kompetenztitel, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, fußen.

II. Voraussetzungen von Art. 15 GG

Gemäß Art. 15 GG können Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Art. 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 GG entsprechend. Die Mehrheit der Kommissions­mitglieder sieht die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 15 Satz 1 GG als erfüllt an. Eine Vergesellschaftung könne auch Immobilien unter Einschluss von Erbbaurecht und Wohnungs­eigentum zum Gegenstand haben.

Die Kommissions­mehrheit geht weiter davon aus, dass das rechtsfolgenseitig zu beachtende Gebot der Verhältnismäßigkeit bei der Vergesellschaftung von Immobilien großer Wohnungsunternehmen in Berlin gewahrt würde. Aus dem Fehlen materieller Sozialisierungs­voraussetzungen folge, dass eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Sozialisierung für die Verfolgung des Gemeinwohls nicht möglich sei – Ziel und Mittel der Sozialisierung seien identisch. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei daher nur modifiziert anzuwenden. Neben der Vergesellschaftung als Selbstzweck würden durch eine Vergesellschaftung von Berliner Wohnungen auch Zwecke des Allgemein­wohls verfolgt, wie die Gewährleistung leistbarer Mietpreise für einkommensschwächere Menschen, und zwar unmittelbar im vergesellschafteten Bestand sowie mittelbar im übrigen Bestand. Die Vergesellschaftung der Wohnungs­bestände sei zur Erreichung des Vergesell­schaftungszwecks und der weiteren Zwecke des Allgemeinwohls geeignet.

Die Kommissions­mehrheit vertritt die Auffassung, dass sich die Prüfung der Erforderlichkeit im Falle einer Vergesellschaftung auf die Frage nach Mitteln beschränke, die offensichtlich milder, aber gleich geeignet sind, um die weiteren Zwecke des Allgemein­wohls zu erreichen. Derzeit seien keine offensichtlichen milderen Mittel ersichtlich. Verstärkte Neubautätigkeit ist nach Auffassung der Kommissionsmehrheit kein offensichtlich milderes Mittel, da keineswegs sicher sei, dass sich Neubau in signifikantem Maß auf das Mietniveau auswirke. Im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit fallen nach Ansicht der Kommissionsmehrheit der allgemeine Vergesell­schaftungs­zweck und die darin liegende Anerkennung eines öffentlichen Interesses an einer gemeinnützigen Bewirtschaftung der in Art. 15 Satz 1 GG genannten Güter besonders ins Gewicht. Im Ergebnis sei das Vorhaben der Vergesell­schaftung von Wohnungs­beständen großer Wohnungs­unternehmen angemessen, u.a. ob der Dringlichkeit einer Problemlösung für die gravierende Wohnungsmangellage und der damit einhergehenden überdurchschnittlichen Mietsteigerungen.

Nicht mitgetragen wird die Mehrheitsmeinung der Kommission von drei Kommissionsmitgliedern. In einem Sondervotum vertreten die drei Kommissionsmitglieder die Auffassung, dass dem Anliegen der Vergesellschaftung weniger Gewicht beizumessen sei, als von der Kommissionsmehrheit behauptet, und eine abschließende Beurteilung der Angemessenheit gegenwärtig nicht möglich sei, da notwendige Erkenntnisse auf der tatsächlichen Ebene fehlten.

III. Höhe der Entschädigung

Bereits im Vorfeld des Volksentscheides war einer der zentralen Diskussionspunkte, ob die betroffenen Wohnungsunternehmen unterhalb des Verkehrswertes der fraglichen Immobilien entschädigt werden können. Die Kommissionsmehrheit kommt zu dem Schluss, dies sei möglich. Gemäß Art. 15 Satz 2 GG ist mit Blick auf die Entschädigung Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG anzuwenden, das heißt die Höhe der Entschädigung ist im Wege einer gerechten Abwägung der Interessen der Allgemeinheit einerseits und der Interessen der Beteiligten andererseits zu bestimmen. Die Kommissionsmehrheit ist der Auffassung, dem Gesetzgeber komme ein großer Einschätzungsspielraum zu, wie die Entschädigung zu bemessen sei. Sie schlägt verschiedene Bemessungsansätze vor:

  • Denkbarer Entschädigungsansatz seien zunächst die Erträge aus gemeinnütziger Bewirtschaftung für die Restnutzungsdauer der Wohnimmobilie, bezogen auf eine Gesamtnutzungsdauer von 40 Jahren, die im Rahmen von Bewertungen üblicherweise anzusetzen sei.
  • Ferner komme eine Bemessung nach fiskalischer Realisierbarkeit in Betracht. Könne eine Vergesellschaftung grundsätzlich aus finanziellen Gründen nicht realisierbar werden, wenn die enteigneten bzw. vergesellschafteten Gegenstände im Wesentlich zum Verkehrswert entschädigt werden, sei der Staat befugt, eine Entschädigung zu leisten, die seinen fiskalischen Möglichkeiten entspricht.
  • Weiterer Bemessungs­ansatz sei der hypothetische Verkehrswert auf Basis potenzieller Schranken­bestimmung. Schranken­bestimmungen, die in Ansehung der Allgemeinwohlzwecke erfolgen könnten, die das Vorhaben jenseits des Zwecks der Vergesellschaftung befördern sollen, wären von Betroffenen entschädigungsfrei hinzunehmen und minderten zugleich den Wert des Eigentums. Der verbleibende Wert sei dann die Entschädigungssumme für den Rechtsverlust, der zum „Zweck der Vergesellschaftung“ verursacht würde.

Drei Kommissionsmitglieder vertreten in einem Sondervotum einen anderen Standpunkt. Ihrer Ansicht nach gelten wegen des Verweises von Art. 15 Satz 2 GG auf Art. 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 GG bei der Vergesellschaftung im Grundsatz dieselben Maßstäbe wie bei der Enteignung. Somit sei grundsätzlich der Verkehrswert Ausgangspunkt für die Bemessung der Entschädigungssumme. Abschläge wegen des Wesens der Sozialisierung seien denkbar – eine Klärung durch die Rechtsprechung sei aber noch nicht erfolgt.

C. Bewertung und Ausblick

Im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Landesregierung in Berlin wurde vereinbart, ein Vergesellschaftungsrahmengesetz auf den Weg zu bringen, sofern die Expertenkommission die Vergesellschaftung verfassungsrechtlich für zulässig erachtet. Das Vergesellschaftungs­rahmengesetz soll laut Koalitionsvertrag einen Rechtsrahmen und objektive qualitative Indikatoren bzw. Kriterien für eine Vergesellschaftung nach Art. 15 GG in den Geschäftsfeldern der Daseinsvorsorge (z. B. Wasser, Energie, Wohnen) sowie Grundsätze der jeweils erforderlichen angemessenen Entschädigung festlegen. Es soll zwei Jahre nach seiner Verkündung in Kraft treten. In dieser Zeit möchte der Berliner Senat das Vergesellschaftungsrahmengesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen.

Einen der wesentlichen Schwerpunkte einer verfassungs­gerichtlichen Überprüfung würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die von der Kommissionsmehrheit befürwortete „Modifizierung“ des Verhältnismäßigkeits­grundsatzes bilden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss jegliches staatliche Verhalten verhältnismäßig sein. Bei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bzw. der Herausarbeitung seiner Untergebote (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) handelt sich um eine wesentliche Errungenschaft moderner Rechtsstaatlichkeit, dessen Ursprünge sich allerdings bis in antike Gerechtigkeitslehren zurückverfolgen lassen. Es handelt sich um ein unverzichtbares Vehikel zur Effektuierung der Grundrechte. Auch wenn in Rechtsprechung durchaus unterschiedliche „Prüfungsintensitäten“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anerkannt werden, begegnet die These, im Rahmen von Art. 15 GG sei dieses rechtsstaatliche Dreh- und Angelprinzip prinzipiell anders zu verstehen als bei sonstigem staatlichem Verhalten, daher Bedenken.

In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, ob die angebliche „Sonderstellung“ von Art. 15 GG, die insbesondere gesetzeshistorisch begründet wird, nicht ein verfassungsrechtliches Relikt aus einer Zeit darstellt, in der jedenfalls in deutschen Rechtskreisen Bedeutung und Reichweite des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes noch verinnerlicht werden mussten. Es liegt mithin nahe, dass Art. 15 GG im Lichte von über 70 Jahren Verfassungsrechtsprechung neu zu bewerten ist. Die US-amerikanische Verfassungstheorie des „originalism“, der zufolge Rechtsquellen primär im Geiste der Zeit ihres Ursprungs zu interpretieren sind, konnte sich jedenfalls in der deutschen Verfassungsrechtsprechung und -theorie nie durchsetzen.

Die Frage, ob und wie der Verhältnismäßigkeits­grundsatz im Rahmen von Art. 15 GG zu verstehen ist, strahlt auch auf die Frage nach einer etwaigen Entschädigung aus. Die von der Kommissionsmehrheit befürworteten Methoden zur Berechnung der Entschädigung liefen – in unterschiedlichem Maße – auf einen teilweisen entschädigungslosen Entzug von Eigentum hinaus, der, lehnt man eine Modifizierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ab, nicht verhältnismäßig wäre – zumal wenn der Staat selbst durch seine Bauland- und Wohnungspolitik zu gestiegenen Mieten beigetragen hat. Auch legt der Wortlaut von Art. 15 Satz 2 GG nahe, dass Art und Weise der Entschädigung nicht anders zu verstehen sein können als im Rahmen der Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG. Für Art. 14 GG hat das Bundesverfassungsgericht zwar angedeutet, dass Eigentümer unter Umständen gewisse Abschläge aufgrund der Sozialgebundenheit des Eigentums in Kauf nehmen müssen. Gleichsam grenzenlose, am (angeblich) fiskalisch Machbaren orientierte Abschläge dürften damit aber nicht gemeint gewesen sein.

Um die Verfassungskonformität eines Vergesellschaftungsrahmengesetzes substantiiert beurteilen zu können, bleibt seine konkrete Ausgestaltung abzuwarten. Sollte seine Ausgestaltung allerdings auf den wesentlichen Rechtsannahmen der Kommissionsmehrheit aufbauen, wäre es aus den vorstehend genannten Gründen verfassungsrechtlich angreifbar.