Update – Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof
(Stand 05.10.2023)
Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hat in Zusammenarbeit mit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH) erarbeitet. Darauf folgte ein – inhaltlich allenfalls marginal abweichender – Gesetzesentwurf der Bundesregierung.
Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass der BGH künftig aus bei ihm anhängigen Revisionsverfahren ein oder mehrere aus seiner Sicht geeignete Verfahren auswählen und sie zu Leitentscheidungsverfahren bestimmen kann. Als Leitentscheidungsverfahren soll ein Revisionsverfahren geeignet sein, wenn die Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Noerr berichtete.
Wir hatten bereits seinerzeit kritisiert: So richtig das Ziel, zügige höchstrichterliche Entscheidungen zu erreichen, sein mag, dürfte das beabsichtigte Leitentscheidungsverfahren die bestehenden Probleme nicht lösen. Auch wenn im Regierungsentwurf mehrfach betont wird, es handele sich nur um einen Baustein zur Bekämpfung von Klagewellen, scheint der Entwurf (weiterhin) zu kurz gesprungen. Die ausführliche Analyse, warum der Entwurf des Ministeriums nicht zu effizienten Leitentscheidungsverfahrens führt, finden Sie hier.
In seiner Stellungnahme vom 29.09.2023 (BR-Drs. 375/23) stößt der Bundesrat nun in das gleiche Horn und stellt ebenfalls fest, dass die bisher geplanten Regelungen nur einen Anfang darstellen können und in der geplanten Konzeption in der Praxis allenfalls geringe Wirkung entfalten werden. Der Gesetzesentwurf komme der vom Bundesrat erhobenen Forderung nach „Maßnahmen zur Bewältigung zivilgerichtlicher Massenverfahren und zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Justiz“ (BR-Drs. 342/22) nur unzureichend nach.
I. Fundamentalkritik des Bundesrates am geplanten Leitentscheidungsverfahren
Besonders bedenklich sei, dass ein Rechtsstreit für das Leitentscheidungsverfahren erst den gewöhnlichen und damit zeitaufwendigen Instanzenzug durchlaufen müsse. Eine wesentliche Entlastung der unteren Instanzen werde dadurch nicht erreicht.
Es sei ferner zu erwarten, dass der BGH für die von ihm zu treffende Auswahl des zur Leitentscheidung geeigneten Revisionsverfahrens, den Eingang einer Mehrzahl von Revisionen abwarte. Auch das führe wiederum zu einer Verzögerung.
Der Bundesrat möchte ferner in dem geplanten § 148 Abs. 4 ZPO-RegE streichen, dass die Aussetzung eines Verfahrens, welches von Rechtsfragen abhängt, die Gegenstand eines beim BGH anhängigen Leitentscheidungsverfahrens sind, von der Zustimmung der Parteien abhängt. Die Entlastung der Instanzgerichte verfehle der Gesetzesentwurf, wenn er die nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts mögliche Aussetzung von der Zustimmung beider Parteien abhängig mache. Prozesstaktische Gründe ließen befürchten, dass sich mindestens eine Partei gegen die Aussetzung wenden werde.
II. Der Bundesrat hält ein funktionierendes Gesamtkonzept für erforderlich
Der Bundesrat hält es für erforderlich, Massenverfahren im Rahmen eines Gesamtkonzeptes zu begegnen, das über das Leidentscheidungsverfahren hinausgehe.
Daher sollten die maßgeblichen Rechtsfragen auch schon aus der ersten Instanz heraus dem BGH vorgelegt werden können. Das könne etwa durch – nicht näher benannte – flankierende Regelungen zum Leitentscheidungsverfahren oder durch anders gelagerte Ansätze, wie ein Vorlageverfahren, sichergestellt werden. Eine entsprechende Forderung hatten wir bereits im Juni diesen Jahres formuliert (vgl. hier).
Mit einbezogen werden müssten hierbei effektive Möglichkeiten, Beweisaufnahmen zu konzentrieren und Strukturvorgaben durch die Gerichte für einen einzelfallbezogenen und konzentrierten Parteivortrag zu ermöglichen.
III. Gut gedacht aber schlecht gemacht
Bereits im Juni diesen Jahres lautete unser Fazit: So richtig das Ziel ist, eine zügige Klärung der in einer Vielzahl von Einzelklagen auftretenden zentralen Rechtsfragen zu ermöglichen, der Gesetzesentwurf des Ministeriums springt zu kurz.
Es bleibt abzuwarten, ob die Kritik des Bundesrates Gehör findet oder verhallt. Bis dahin werden die Instanzgerichte weiter mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln mit dem Phänomen Massenverfahren umgehen müssen.