Scheinselbstständigkeit: Bundestag beschließt Moratorium zur befristeten Vermeidung einer abhängigen Beschäftigung selbstständiger Lehrkräfte
Der Bundestag hat am vergangenen Freitag (31.01.2025) mit den Stimmen von Union, SPD und Grünen eine zweijährige Übergangsregelung für selbstständige Lehrkräfte beschlossen. Hiernach können Lehrkräfte, die ihre Tätigkeit nicht als abhängige Beschäftigte, sondern als Selbstständige ausüben, dies auch weitere zwei Jahre tun, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Tätigkeit als abhängige Beschäftigung qualifiziert wird.
I. Hintergrund
Hintergrund der gesetzlichen Regelung ist die in der Praxis ebenso schwierige wie in ihren Konsequenzen weitreichende Abgrenzungsfrage nach dem sozialversicherungsrechtlichen Status einer Tätigkeit. In der modernen Arbeitswelt gibt es eine Vielzahl von Tätigkeiten, die sowohl im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses (z.B. als Arbeitnehmer) als auch als Selbstständiger ausgeübt werden können. Die Frage nach der korrekten Statusqualifikation wird dabei im Rahmen einer Einzelfallentscheidung getroffen. Die vermehrt prüfenden Sozialversicherungsträger sowie die Sozialgerichte treffen ihre Entscheidung dabei unter Abwägung aller Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls.
Dies macht die Risikoanalyse und die rechtskonforme Beauftragung von Selbstständigen für Unternehmen in der Praxis äußerst herausfordernd. Rechtskonformes Handeln ist in diesem Bereich besonders wichtig, da bei Fehlern nicht nur hohe Nachforderungen der Sozialversicherungsträger und Finanzämter, sondern auch persönliche strafrechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen drohen (vgl. § 266a StGB und § 370 AO).
Die ohne empirische Grundlage in der Praxis festgestellte Neigung der Sozialversicherungsträger, die geprüften Tätigkeiten als abhängige Beschäftigung einzuordnen, sorgt dabei nicht nur für Herausforderungen in den Compliance-, Einkaufs- und Rechtsabteilungen von Unternehmen. Diese Praxis sorgt auch zunehmend für Probleme in Bereichen, in denen die Gesellschaft sowie der Gesetzgeber ein vitales Interesse an der Leistungserbringung verschiedener Akteure hat.
Die drohende Einordnung als abhängige Beschäftigung, verbunden mit den damit einhergehenden sozialversicherungsrechtlichen Beitragspflichten, sorgte z.B. dafür, dass befürchtet wurde, dass nicht mehr genug Ärzte für den ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienst zur Verfügung stehen (vgl. BSG Urt. v. 24.10.2023 – B 12 R 9/21 R), dass Lehrangebote außerhalb staatlicher Schulen nicht mehr bedient werden können (vgl. BSG Urt. v. 28.06.2022 – B 12 R 3/20 R, sog. „Herrenberg-Entscheidung“) oder aber keine Betreuer mehr für den Parasport oder Vereine und Verbände des Breitensports gefunden werden können.
Vor diesem Hintergrund wurde unter Beteiligung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Berufsverbänden, Gewerkschaften und der Deutschen Rentenversicherung Bund ein „Dialogprozess“ aufgesetzt, in dessen Rahmen für bestimmte Berufsgruppen darüber diskutiert wurde, wie eine Beauftragung Selbständiger in diesen gesellschaftlich sensiblen Bereichen rechtssicher möglich sein kann (wir berichteten über die in diesem Kontext angedachten, sog. Insellösungen in unserem Live-Webinar vom 30.10.2024).
Als Ergebnis dieser Dialogprozesse wurde für die Tätigkeit als Arzt im Not-/Bereitschaftsdienst ein Kriterienkatalog formuliert, bei dessen Vorliegen die Beteiligten erklärt haben, eine selbständige Tätigkeit anzunehmen. Der hinsichtlich der Tätigkeit als Lehrkraft geführte Dialogprozess dürfte mit dem nunmehr verabschiedeten Gesetz zumindest vorerst ruhen. Hinsichtlich der vielen selbstständigen Leistungserbringer im Sport fehlt derzeit leider eine handhabbare Lösung.
II. Die Regelung
Die nunmehr für Lehrkräfte beschlossene Übergangsregelung wird in § 127 SGB IV n. F eingefügt. Sie tritt am Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft und lautet:
„§ 127 Übergangsregelungen für Lehrtätige
(1) Stellt ein Versicherungsträger in einem Verfahren zur Feststellung des Erwerbsstatus nach § 7a oder im Rahmen der Feststellung der Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung nach § 28h Absatz 2 oder § 28p Absatz 1 Satz 5 fest, dass bei einer Lehrtätigkeit eine Beschäftigung vorliegt, so tritt Versicherungspflicht aufgrund dieser Beschäftigung erst ab dem 1. Januar 2027 ein, wenn
1. die Vertragsparteien bei Vertragsschluss übereinstimmend von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen sind und
2. die Person, die die Lehrtätigkeit ausübt, zustimmt.
Sofern keine solche Feststellung vorliegt und die Vertragsparteien bei Vertragsschluss übereinstimmend von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen sind und die Person, die die Lehrtätigkeit ausübt, gegenüber dem Vertragspartner zustimmt, tritt bis zum 31. Dezember 2026 keine Versicherungs- und Beitragspflicht aufgrund einer Beschäftigung ein.
(2) Sofern die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind, gelten ab dem [Tag nach der Verkündung] bis zum 31. Dezember 2026 die betroffenen Personen als Selbständige im Sinne der Regelungen zur Versicherungs- und Beitragspflicht für selbständig tätige Lehrer nach dem Sechsten Buch. Abweichend von Satz 1 gelten für Personen, bei denen die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt sind und die mit der Lehrtätigkeit nach Absatz 1 die Voraussetzungen des § 1 des Künstlersozialversicherungsgesetzes erfüllen würden, wenn diese als selbständige Tätigkeit ausgeübt würde, die Regelungen zur Versicherungs- und Beitragspflicht nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz bis zum 31. Dezember 2026 entsprechend.
(3) Sofern die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind, gelten Pflichtbeiträge, die aufgrund der Lehrtätigkeit nach den Vorschriften für selbständig tätige Lehrer nach dem Sechsten Buch vor dem [Tag nach der Verkündung] entrichtet wurden, als zu Recht entrichtet.
(4) Sofern die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt sind, gilt für die betroffenen Personen, die zum Zeitpunkt der Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 oder der Zustimmung nach Absatz 1 Satz 2 nach § 28a des Dritten Buches versichert waren, § 28a des Dritten Buches ab Beginn der Beschäftigung bis zum 31. Dezember 2026 entsprechend.“
Damit können lehrtätige Personen, die ihre Leistung als Selbstständige erbringen, diese Praxis weitere zwei Jahre beibehalten. Denn die Parteien des Vertrages haben es in den nächsten zwei Jahren selbst in der Hand, über den sozialversicherungsrechtlichen Status der selbstständigen Lehrkraft zu entscheiden.
Voraussetzung für das Eingreifen der Sonderregelung, die eine Qualifikation der Tätigkeit als abhängige Beschäftigung verhindert, ist lediglich, dass (i) die Parteien von einer selbstständigen Tätigkeit ausgehen und (ii) die Lehrkraft dieser Einordnung zustimmt (siehe § 127 Abs. 1 SGB IV n.F.). Die Moratoriumsregelung gilt dabei ausweislich des insoweit eindeutigen Wortlautes des Abs. 1 ausdrücklich für Fälle in denen eine anderslautende Entscheidung der Sozialversicherungsträger bereits vorliegt. Sie verhindert damit das Wirksamwerden dieser Entscheidungen vor Ablauf des 31.12.2026. Zugleich wirkt die Neuregelung präventiv, indem sie auch die Wirksamkeit noch nicht vorliegender Statusfeststellungsentscheidungen bis zum Ablauf des genannten Datums verhindert.
III. Ausblick
Für den einzelnen selbstständigen Lehrtätigen sowie Bildungseinrichtungen dürfte die Neuregelung – sofern sie Bestand hat – hilfreich sein. Sie erhalten für die nächsten zwei Jahre Planungssicherheit und müssen nicht damit rechnen, dass die Tätigkeit als abhängige Beschäftigung qualifiziert wird. Der Lehrtätige muss somit auch vorerst nicht befürchten, dass die Vertragsbeziehung beendet wird, weil die Einrichtung die zusätzlich anfallenden Lohnnebenkosten nicht finanzieren kann. Die Regelung ist damit zumindest kurzfristig ein Gewinn für das Bildungsangebot in Deutschland.
Darüber hinaus begegnet diese gesetzliche Sonderregelung jedoch weitreichenden Bedenken. Sie verhindert, dass auch korrekt erfolgte Statusqualifikationen einer abhängigen Beschäftigung wirksam werden. Dies dürfte zwar nur geringe unmittelbare Auswirkungen auf die ohnehin unter Druck stehenden Sozialversicherungsträger haben, da selbstständige Lehrkräfte bereits jetzt versicherungspflichtig sind (siehe z.B. § 2 S. 1 Nr. 1 SGB IV). Mittelbare Auswirkungen auf die Prüfpraxis zu Lasten der Versichertengemeinschaft dürften in den nächsten zwei Jahren aber unvermeidlich sein. Zudem ist der Anwendungsbereich der Regelung unklar. Es stellt sich die Frage, wann eine Tätigkeit eine Lehrtätigkeit im Sinne des § 127 SGB IV n. F. ist. Der Wortlaut des Gesetzes sowie die Begründung schweigen hierzu.
Darüber hinaus liefert dieses Gesetz weder langfristige noch umfassende Lösungsansätze. Es stellt eine kurzfristige Sonderregelung für einen spezifischen Tätigkeitsbereich dar und klammert andere – gesellschaftlich nicht minder wichtige – Bereiche aus. Damit steht zu befürchten, dass der Druck auf den Gesetzgeber, eine Gesamtlösung der Herausforderungen in diesem Bereich herbeizuführen, sinkt. Vor diesem Hintergrund mahnen einzelne Branchenverbände bereits, dass dies nur der erste Schritt sein kann.
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