Russische Gerichte gehen bei der Vollstreckung von Forderungen gegen russische Tochtergesellschaften westlicher Unternehmen vor
Russische Gerichte beschreiten derzeit neue Wege, um in Russland belegene Vermögenswerte westlicher Unternehmen, die sich in Rechtsstreitigkeiten mit russischen Klägern befinden, zu pfänden. Anteile an russischen Tochtergesellschaften westlicher Unternehmen können selbst dann gepfändet werden, wenn sie von ausländischen Gesellschaften einer Unternehmensgruppe gehalten werden, die gar nicht an der Rechtsstreitigkeit beteiligt sind.
In einem aktuellen Urteil vom 20. Februar 2024 in der Rechtssache Ruschemalliance gegen Linde (Az. А56-129797/2022) hat das Arbitrazh-Gericht St. Petersburg nicht nur einer Klage der Ruschemalliance gegen die Linde GmbH und die Linde PLC in Höhe von ca. EUR 750 Mio. auf Rückzahlung einer Vorauszahlung und auf Schadenersatz im Rahmen eines EPC-Vertrags und eines damit verbundenen Bürgschaftsvertrags zwischen den Parteien stattgegeben, sondern zwei nicht-russische Tochtergesellschaften der Linde Group (Linde UK Holdings No. 2 und Commercium Immobilien) als Gesamtschuldner hierfür in Haftung genommen. Die Immobiliengesellschaft Commercium Immobilien hält Anteile an den russischen Tochtergesellschaften der Linde Group. Dadurch sollte der Ruschemalliance ermöglicht werden, bezüglich ihrer Forderungen in die Anteile an den russischen Tochtergesellschaften der Linde Group zu vollstrecken, wenngleich diese Anteile nicht von den eigentlich in dem Rechtsstreit beklagten Linde-Gesellschaften gehalten werden.
Um eine Haftung der Linde UK Holdings No. 2 und der Commercium Immobilien zu begründen, qualifizierte das russische Gericht diese Gesellschaften als Beteiligte an einer zum Nachteil der Ruschemalliance begangenen unerlaubten Handlung (d.h. als Schuldner eines nicht-vertraglichen Anspruchs). Dem Urteil zufolge sollen diese Unternehmen angeblich rechtswidrig zur Verursachung des Schadens der Ruschemalliance allein dadurch beigetragen haben, dass sie:
- von der Linde PLC kontrolliert werden,
- die russischen Vermögenswerte der Linde Group halten, und
- die Forderung der Ruschemalliance gegen die Linde GmbH und die Linde PLC nicht freiwillig beglichen haben, obwohl sie nach dem Grundsatz von Treu und Glauben dazu verpflichtet gewesen wären.
Vereinfacht ausgedrückt hat das russische Gericht entschieden, die russischen Vermögenswerte der Linde Group als Vermögenswerte der Linde PLC zu behandeln, um die Vollstreckung der Verbindlichkeiten der Linde PLC zu ermöglichen.
Bereits zuvor hatten die russischen Gerichte in der Rechtssache Russische Eisenbahngesellschaft gegen Siemens (Az. А40- 195006/2022) nicht nur den Vertragspartner der Russischen Eisenbahngesellschaft (die Siemens AG), sondern auch die russische Tochtergesellschaft der Siemens AG zur Erfüllung eines mit der Russischen Eisenbahngesellschaft geschlossenen Dienstleistungsvertrags verpflichtet, obwohl diese Tochtergesellschaft nicht Partei des Dienstleistungsvertrags war.
Diese Entwicklung in der russischen Rechtsprechung zeigt, dass russische Vermögenswerte westlicher Unternehmen (insbesondere ihrer russischen Tochtergesellschaften) gefährdet sind und in Russland ungeachtet ihrer Eigentümerverhältnisse gepfändet werden können.