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Vertikale Preisbindungen verstoßen nicht automatisch gegen das europäische Wettbewerbsrecht

25.08.2023

Am 29. Juni 2023 hat der Europäische Gerichtshof („EuGH") sein Urteil in der Rechtssache Super Bock Bebidas (C-211/22) verkündet, in dem einige Schlüsselbegriffe des europäischen Wettbewerbsrechts im Zusammenhang mit vertikalen Preisabsprachen geklärt wurden. Das Urteil stellt klar, dass eine Kernbeschränkung nach der Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen („Vertikal-GVO“) nicht mit der Kategorie der "bezweckten" Wettbewerbsbeschränkung des Kartellverbots nach EU-Recht gleichgesetzt werden kann. Vielmehr müssen die Wettbewerbsbehörden unabhängig von dem betreffenden Verhalten die besonderen Umstände des jeweiligen Falls berücksichtigen, um eine bezweckte Beschränkung annehmen zu können. Das Urteil sollte jedoch nicht als Freifahrtschein für vertikale Preisbindungen gesehen werden, deren Verfolgung für viele Wettbewerbsbehörden eine Priorität ist und voraussichtlich auch bleiben wird.

Hintergrund

Super Bock Bebidas SA, ein portugiesischer Hersteller von alkoholischen und alkoholfreien Getränken, vertrieb seine Getränke an Hotels, Restaurants und Cafés in Portugal über Alleinvertriebsverträge mit unabhängigen Händlern. Von 2006 bis 2017 gab Super Bock Mindestpreise für den Weiterverkauf vor. Super Bock führte hierfür ein Kontroll- und Überwachungssystem ein und verlangte von seinen Vertriebshändlern, dass sie Weiterverkaufsdaten übermitteln. Die Händler hielten sich in der Regel an die Preise von Super Bock, da bei Nichteinhaltung wohl Maßnahmen wie die Streichung von Preisnachlässen oder die Einstellung der Belieferung drohten.

2019 verhängte die portugiesische Wettbewerbsbehörde eine Geldbuße von EUR 24 Mio. gegen Super Bock. Die Behörde war der Auffassung, dass die Vorgehensweise von Super Bock gegen die portugiesischen und europäischen Wettbewerbsvorschriften verstieß. Nachdem das zuständige erstinstanzliche portugiesische Gericht die Entscheidung bestätigt hatte, legte Super Bock Berufung ein. Das Berufungsgericht in Lissabon verwies den Fall an den EuGH.

Kernbeschränkungen und „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkungen sind keine deckungsgleichen Kategorien

Der EuGH hatte u.a. die Frage zu beantworten: Stellt eine vertikale Vereinbarung zur Festsetzung von Mindestpreisen für den Weiterverkauf eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung dar, ohne dass zuvor zu prüfen ist, ob diese Vereinbarung den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt? Der EuGH stellte fest, dass eine vertikale Vereinbarung zur Festsetzung von Mindestverkaufspreisen nicht immer eine "bezweckte Wettbewerbsbeschränkung" darstellt, sondern zunächst geklärt werden muss, ob diese Vereinbarung den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt.

Hintergrund:

Kein „sicherer Hafen“ für Kernbeschränkungen: Die Vertikal-GVO sieht für viele vertikale Vereinbarungen einen "sicheren Hafen", d.h. eine Gruppenfreistellung vom Kartellverbot, vor. Die Vertikal-GVO entlastet dadurch Unternehmen von der oft mühsamen Selbsteinschätzung der wettbewerblichen Auswirkungen solcher Vereinbarungen. Dies ist gerechtfertigt, weil vertikale Vereinbarungen „ihrer Natur nach oft weniger schädlich für den Wettbewerb [sind] als horizontale Vereinbarungen". Sie „können aber unter bestimmten Umständen auch ein besonders großes wettbewerbsbeschränkendes Potenzial haben". Daher hat der Gesetzgeber eine Liste von Vereinbarungen gebildet, für die die Gruppenfreistellung nicht anwendbar ist. Die Vereinbarungen auf dieser Liste werden als Kernbeschränkungen bezeichnet und umfassen insbesondere auch die vertikale Mindestpreisbindung. 

Bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen: Das EuGH-Urteil grenzt die Kategorie der Kernbeschränkungen nach der Vertikal-GVO von den „bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen“ nach dem Kartellverbot ab. Handelt es sich bei einer Vereinbarung um eine bezweckte Beschränkung, muss eine Wettbewerbsbehörde nachteilige Auswirkungen auf den Markt nicht mehr prüfen und nachweisen, um einen Verstoß gegen das Kartellverbot festzustellen. Das Konzept der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung reduziert also den Ermittlungsaufwand für die Wettbewerbsbehörden erheblich. Allerdings hat der EuGH klargestellt, dass dies nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein kann. Der Begriff der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung ist insofern eng auszulegen, als er nur für Verhaltensweisen gilt, die den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen. Dies erfordert eine Bewertung des Inhalts der Vereinbarung, der mit ihr verfolgten Ziele sowie des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs. Der EuGH stellt ferner klar, dass dieser Ansatz unabhängig von dem betreffenden Verhalten anzuwenden ist, also auch für vertikale Preisabsprachen gilt.

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass die vertikale Preisbindung eine Kernbeschränkung darstellt und daher nicht in den Genuss des sicheren Hafens der Vertikal-GVO kommen kann, entbindet eine Wettbewerbsbehörde nicht von ihrer Pflicht, nachzuweisen, dass die Vereinbarung gegen das EU-Wettbewerbsrecht verstößt. Beschränkungen, die nicht unter die Gruppenfreistellung fallen, erfordern weiterhin eine Einzelfallprüfung.

Leitfäden der Kommission werden damit in Frage gestellt

Das Urteil stellt damit auch die Anwendung der in einigen wichtigen Leitfäden der Kommission vorgesehenen „Erleichterungen“ in Frage.

Die EU-Kartellvorschriften sind nicht anwendbar, wenn die Auswirkungen der Vereinbarung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten oder auf den Wettbewerb nicht spürbar sind. Der EuGH hat in der Vergangenheit entschieden, dass eine bezweckte Beschränkung [nicht Kernbeschränkung!] immer eine „spürbare“ Wettbewerbsbeschränkung darstellt. Vor diesem Hintergrund hat die Kommission ihre Bekanntmachung darüber, wann Vereinbarungen den Wettbewerb nicht spürbar beschränken, geändert. Im Gegensatz zum EuGH bezieht die Kommission nicht nur bezweckte Beschränkungen mit ein, sondern geht noch weiter, indem sie postuliert, dass sie „Beschränkungen […], die in derzeitigen oder künftigen Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission als Kernbeschränkungen aufgeführt sind, […] im Allgemeinen als bezweckte Beschränkungen betrachtet.“

Auch in ihren Leitlinien für vertikale Beschränkungen erklärt die Kommission, dass sie bei der Beurteilung vertikaler Vereinbarungen die folgenden Grundsätze anwenden wird: „Beschränkungen, die in Gruppenfreistellungsverordnungen, Leitlinien und Bekanntmachungen als Kernbeschränkungen aufgeführt sind, werden von der Kommission in der Regel als bezweckte Beschränkungen betrachtet.“

Dieser Ansatz erscheint im Lichte des Super Bock-Urteils zu weit.

Verfolgung vertikaler Preisbindungen bleibt voraussichtlich eine Priorität der Wettbewerbsbehörden

Das Urteil sollte dennoch nicht als Freifahrtschein für vertikale Preisbindungen verstanden werden. In Anbetracht der erheblichen Folgen einer falschen Selbsteinschätzung, ob eine vertikale Preisbindung (ausnahmsweise) mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar ist, ist jedes Unternehmen gut beraten, seine Verkaufs- und Vertriebspraktiken gründlich zu überprüfen und sich bei der Beurteilung der Vereinbarkeit solcher Praktiken mit dem Wettbewerbsrecht rechtlich beraten zu lassen.

Das Bundeskartellamt hat von je her eine strenge Haltung gegenüber vertikalen Vereinbarungen zur Festsetzung von Mindestverkaufspreisen eingenommen (siehe aus jüngerer Zeit z. B. hier und hier). Diese Entscheidungen lassen darauf schließen, dass die Verfolgung von vertikalen Preisabsprachen weiterhin eine der Prioritäten des Bundeskartellamts bleiben wird.