Neue Sammelklage in Deutschland
Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz: Referentenentwurf geht in Ressortabstimmung
Ende diesen Jahres wird in Deutschland erstmals eine Sammelklage eingeführt werden, mit der Verbände Ansprüche von Verbrauchern gegen Unternehmen auf Leistung gesammelt einklagen können. So verlangt es die europäische Verbandsklagen-Richtlinie vom deutschen Gesetzgeber. Für Unternehmen entsteht so das Risiko, bei Pflichtverletzungen künftig von vielen Verbrauchern kollektiv auf Entschädigung, Reparatur oder Preisminderung verklagt zu werden.
Das Bundesjustizministerium hat am vergangenen Donnerstag einen entsprechenden Referentenentwurf für das sogenannte Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (E-VDuG) in die Ressortabstimmung gegeben. Dieser Entwurf dürfte in den kommenden Wochen für reichlich Diskussionsstoff sorgen.
Ablauf der neuen Verbandsklage
Mit der neuen Verbandsklage können qualifizierte Einrichtungen für Verbraucher erstmals direkt auf Leistung klagen, also eine Abhilfeentscheidung erwirken. Während mit der Musterfeststellungsklage nur erreicht werden kann, dass das Bestehen oder Nichtbestehen der Voraussetzungen von Ansprüchen festgestellt wird, können Unternehmen mit der neuen Verbandsklage auch direkt auf Zahlung verklagt werden.
Der Referentenentwurf sieht vor, dass eine qualifizierte Einrichtung eine Abhilfeklage erheben kann, wenn mindestens 50 Personen gleichartige Ansprüche zum Verbandsklageregister anmelden. Die Anmeldung ist bis zum Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung möglich. Das Bundesjustizministerium schlägt also ein sogenanntes Opt-In-Modell vor. Insoweit entspricht die Verbandsklage der bisherigen Musterfeststellungsklage. Neu ist, dass auch kleinere Unternehmen – solche, die weniger als 50 Mitarbeitende beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz EUR 10 Mio. nicht übersteigt – ihre Ansprüche anmelden können.
Mit der Verbandsklage sollen sämtliche Ansprüche, die eine Vielzahl von Verbrauchern gegen ein Unternehmen betreffen, eingeklagt werden können. Da die Verbandsklagen-Richtlinie nur verlangt, dass bestimmte Verbraucherrechte (z.B. Datenschutzrecht) mit der Verbandsklage durchgesetzt werden können, stellt der Referentenentwurf eine überschießende Umsetzung dar. In Deutschland könnte die Verbandsklage so auch in anderen Bereichen, etwa bei Kartellschadensersatzansprüchen, Kapitalanlagefällen oder der Durchsetzung des Digital Markets Act Bedeutung erlangen.
Das Verfahren nach einer Abhilfeklage soll in mehrere Abschnitte unterteilt werden und wie folgt ablaufen:
Schadensschätzung und Bestimmung eines kollektiven Gesamtbetrages
In dem Verbandsklageverfahren soll es den qualifizierten Einrichtungen obliegen, konkrete Anhaltspunkte für die Höhe des Schadens darzulegen. Das Gericht soll sodann berechtigt sein, den Schaden entsprechend § 287 ZPO zu schätzen.
Im Abhilfeendurteil spricht das Gericht einen kollektiven Gesamtbetrag zu, bei dem es unterstellen darf, dass alle angemeldeten Ansprüche in voller Höhe berechtigt sind. Die Einzelansprüche werden erst im Umsetzungsverfahren geprüft und der etwaig zu viel zugesprochene Betrag zurückerstattet.
Prozessfinanzierung möglich
Der Referentenentwurf sieht vor, dass eine Prozessfinanzierung grundsätzlich möglich sein soll. Einige Zulässigkeitsvoraussetzungen sollen dabei sicherstellen, dass Interessenkonflikte zwischen Verbrauchern und dem Prozessfinanzierer vermieden werden.
Da qualifizierte Einrichtungen oft nur limitierte finanzielle Mittel haben, können Prozessfinanzierungen den Handlungsspielraum der qualifizierten Einrichtungen deutlich erweitern. Es ist allerdings fraglich, welche Motivation Prozessfinanzierer haben könnten, eine Verbandsklage zu finanzieren, da grundsätzlich der gesamte eingeklagte Betrag an die Verbraucher ausgezahlt werden muss und keine Erfolgsbeteiligung vereinbart werden kann.
Klagebefugnis auch für ausländische Verbände
Wie Art. 4 der Verbandsklage-Richtlinie bestimmt, werden auch qualifizierte Einrichtungen aus anderen Mitgliedsstaaten in Deutschland eine Verbandsklage erheben können, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Unternehmen werden daher auch mit Klagen ausländischer Verbände rechnen müssen, die z.B. in Portugal oder den Niederlanden seit Jahren aktiv sind.
Unternehmen müssen Einwendungen teilweise in gesonderten Verfahren geltend machen
Unternehmen könnten Einwendungen gegen Ansprüche einzelner Verbraucher haben, die sie nicht im Abhilfeverfahren geltend machen können. Für diese Fälle sieht § 40 E-VDuG vor, dass Unternehmen die Einwendungen in eigenen Klageverfahren gegen die Verbraucher geltend machen und die ausgezahlten Beträge im Wege des Bereicherungsrecht zurückverlangen müssen.
Nächste Schritte
Der nun vorliegende Entwurf wird zunächst innerhalb der Bundesregierung abgestimmt. Anschließend muss das parlamentarische Verfahren durchlaufen werden. Hierbei ist Eile geboten. Die Verbandsklagen-Richtlinie muss bis zum 25. Dezember 2022 in deutsches Recht umgesetzt sein, das neue Recht spätestens ab dem 25. Juni 2023 anwendbar sein. Es bleibt abzuwarten, ob und welche Änderungen der Gesetzesentwurf im weiteren Verfahren nimmt.
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