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Neue Produkt­haftungs­richtlinie – massive Pflichten für Industrie

19.11.2024

Die neue Produkthaftungsrichtlinie (Product Liability Directive, “PLD”) hat das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen, wurde am 18.11.2024 im Amtsblatt veröffentlicht und tritt am 8.12.2024 + 20 Tage in Kraft (zum Initiativentwurf sehen Sie bereits unseren Beitrag „Verschärfung der Produkthaftung in Europa“).

Ausgangslage

Der nationale Gesetzgeber hat zwei Jahre Zeit, das deutlich verschärfte europäisch harmonisierte Produkthaftungsrecht in ein neues deutsches Produkthaftungsgesetz zu überführen. Dieses wird das alte Produkthaftungsgesetz ablösen.

Die Reform der Produkthaftungsrichtlinie hat den Hintergrund, dass der europäische Gesetzgeber Anpassungsbedarf des vorhandenen Rechts an neue Technologien, einschließlich Künstlicher Intelligenz, an neue Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft und an neue globale Lieferketten festgestellt hat.

Unter der reformierten Produkthaftungsrichtlinie bleibt es bei dem bekannten Grundsatz der verschuldensunabhängigen Haftung. Die neue Richtlinie erweitert jedoch ihren Anwendungsbereich massiv und enthält bedeutende Erleichterungen für die Anspruchsdurchsetzung für Geschädigte.

Erweiterung des Produktbegriffs

Der Produktbegriff umfasst nun ausdrücklich Software. Dadurch wird die bisher bestehende Unsicherheit beseitigt, ob auch (nicht verkörperte) Software vom Produktbegriff umfasst ist. Der Softwarebegriff erfasst ferner explizit Künstliche Intelligenz. Ausgenommen vom Anwendungsbereich der Produkthaftungsrichtlinie ist jedoch freie und quelloffene Software, die außerhalb einer gewerblichen Tätigkeit entwickelt oder bereitgestellt wird.

Es wird klargestellt, dass digitale Dateien grundsätzlich keine Produkte sind, die in den Anwendungsbereich der neuen Richtlinie fallen. Anders hingegen unterfallen digitale Bauunterlagen explizit dem Produktbegriff.

Die Haftung wird zudem auf integrierte oder verbundene digitale Dienste („verbundene Dienste“) ausgeweitet. Hierzu zählen beispielsweise die heutzutage vielfach integrierten Sprachassistenten, welche die Steuerung eines oder mehrerer Produkte mittels Sprachbefehlen ermöglichen.

Umgestaltung des Fehlerbegriffs

Die neue Produkthaftungsrichtlinie strukturiert den Fehlerbegriff neu. Während die alte Richtlinie 1985 allein auf die berechtigte Sicherheitserwartung abstellte und diese Erwartung mit verschiedenen Beispielen konkretisierte, sieht die neue Richtlinie einen Zweiklang aus den Sicherheitserwartungen einer Person einerseits und den gesetzlichen Sicherheitsvorgaben andererseits vor. Auch die neue Richtlinie zählt einen nicht abschließenden Katalog von Beispielen der Fehlerhaftigkeit auf. Eines dieser Beispiele ist, dass das Produkt die sicherheitsrelevanten Cybersicherheitsanforderungen nicht erfüllt. Der Hersteller tritt so für die vorsätzliche Schädigung durch einen Dritten („Hacker“) ein.

Es kommt zu einer ausdrücklichen Verzahnung mit dem Produktsicherheitsrecht. Denn nach dem neuen Fehlerbegriff lassen Produktrückrufe oder sonstige relevante Eingriffe einer zuständigen Behörde das Produkt als fehlerhaft gelten.

Im Rahmen der Fehlerhaftigkeit ist sodann die Kontrolle über das Produkt zu berücksichtigen – auch nachdem das Produkt in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen wurde. Dies resultiert daraus, dass digitale Technologien den Herstellern ermöglichen, über Updates weiter auf das Produkt einzuwirken.

Haftende Wirtschaftsakteure und sonstige Modifikationen

Es bleibt dabei, dass der Hersteller des Produkts und Teilprodukts sowie, unter Umständen, der Einführer sowie Händler haften. Der Kreis der haftenden Wirtschaftsakteure wird aber massiv erweitert und umfasst den Fulfilment-Dienstleister sowie Bevollmächtigte des Herstellers. Bei fehlender Ermittelbarkeit des Schädigers können sodann sogar Online-Plattformen nach der Produkthaftungsrichtlinie haften.

Ein Schaden im Sinne der reformierten Produkthaftungsrichtlinie liegt nun zusätzlich vor, wenn es zu einer Vernichtung oder Verfälschung von Daten kommt, die nicht für berufliche Zwecke verwendet werden.

Die Möglichkeit der Festlegung finanzieller Obergrenzen für die Haftung eines Wirtschaftsakteurs wird in der neuen Produkthaftungsrichtlinie gestrichen. Der bisher geltende Selbstbehalt entfällt. Die Ablauffrist, in der eine geschädigte Person keinen Anspruch auf Entschädigung gemäß der Richtlinie hat, wird von grundsätzlich zehn Jahren auf 25 Jahre verlängert, wenn die Symptome eines Personenschadens nach medizinischem Befund erst mit Verzögerung zutage treten.

Gerichtliche Durchsetzung – Offenlegung von Beweismitteln

Der Geschädigte ist weiterhin grundsätzlich beweispflichtig für den Umstand, dass das Produkt fehlerhaft ist, dass ein Schaden entstanden ist und eine Kausalität zwischen Produktfehler und Schaden besteht. Zukünftig kann es jedoch durch neue Vermutungsregeln für den Kläger ausreichen, die Wahrscheinlichkeit eines Produktfehlers und/oder des Kausalzusammenhangs aufzuzeigen, um erfolgreich verschuldensunabhängige Schadensersatzansprüche durchzusetzen.

Eine der bedeutendsten Änderungen im Rahmen der gerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen stellt die Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln dar: Nach Darlegung der Plausibilität des Schadensersatzanspruchs durch den Kläger im Prozess ist der Beklagte verpflichtet, die in seiner Verfügungsgewalt befindlichen relevanten Beweismittel offenzulegen. Kommt er dem nicht nach, greifen Vermutungsregeln zugunsten des Klägers. Eine Offenlegungspflicht in diesem Umfang, die dem Kläger im Fall einer Beweisnot helfen soll, kennt das deutsche Zivilprozessrecht grundsätzlich bisher nicht. Wie der deutsche Gesetzgeber dieses Rechtsinstitut, das an den „discovery and disclosure“-Prozess des Common Law erinnert, umsetzen möchte, bleibt abzuwarten – insbesondere, ob er sich für eine Umsetzung in der Zivilprozessordnung oder im Produkthaftungsgesetz, entsprechend dem Vorbild des § 33g Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, entscheidet.

Zuletzt wird das Produkthaftungsrecht prozessual durch die Möglichkeit einer Verbandsklage flankiert (weitere Informationen dazu finden Sie in unserem Beitrag „Neue Sammelklage – Gesetz zur Abhilfeklage in Kraft“).

Resümee: vielfache Verschärfung für die Industrie

Das neuregulierte Produkthaftungsrecht geht mit vielen neuen Pflichten für die Industrie einher. Besonders zu beachten ist, dass die von der Produkthaftungsrichtlinie verwendeten Rechtsbegriffe großen Interpretationsspielraum bieten. Die verschuldensunabhängige Haftung ist insoweit ein scharfes Schwert, das dank der neuen Richtlinie eine massive Ausweitung in der Anwendung erfahren hat.