Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof
Bundesministerium der Justiz legt Referentenentwurf vor
Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hat in Zusammenarbeit mit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH) erarbeitet.
Ziel des Entwurfs ist es, für Rechtsfragen, die für eine große Zahl einzelner Rechtsstreitigkeiten erheblich sind, schneller höchstrichterliche Entscheidungen herbeizuführen. Das soll dazu beitragen, eine Welle vieler einzelner Klageverfahren gar nicht erst entstehen zu lassen.
So richtig das Ziel, zügige höchstrichterliche Entscheidungen zu erreichen, sein mag, dürfte das beabsichtigte Leitentscheidungsverfahren die bestehenden Probleme nicht lösen. Auch wenn im Referentenentwurf mehrfach betont wird, es handele sich nur um einen Baustein zur Bekämpfung von Klagewellen, scheint der Entwurf zu kurz gesprungen.
I. Ablauf des Leitentscheidungsverfahrens
Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass der BGH künftig aus bei ihm anhängigen Revisionsverfahren ein oder mehrere aus seiner Sicht geeignete Verfahren auswählen und sie zu Leitentscheidungsverfahren bestimmen kann. Als Leitentscheidungsverfahren soll ein Revisionsverfahren geeignet sein, wenn die Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist.
Das Leitentscheidungsverfahren soll am BGH im Grundsatz geführt werden wie bisherige Revisionsverfahren.
Neu hingegen soll sein, dass der BGH selbst dann durch Beschluss eine Leitentscheidung trifft, wenn sich das zum Leitentscheidungsverfahren erhobene Verfahren erledigt, z.B. durch Revisionsrücknahme (etwa infolge eines außergerichtlichen Vergleichs). Damit soll sichergestellt werden, dass das Revisionsgericht sich zu grundsätzlichen Rechtsfragen auch dann äußern kann, wenn ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil zu der Revision nicht mehr ergehen kann.
Die Leitentscheidung soll weder formale Bindungswirkung entfalten, noch Einfluss auf das konkrete Revisionsverfahren haben.
Hat der BGH ein Verfahren zum Leitentscheidungsverfahren erhoben, sollen die Instanzgerichte künftig bei ihnen anhängige Verfahren leichter aussetzen können, wenn deren Entscheidung von Rechtsfragen abhängt, die Gegenstand des Leitentscheidungsverfahrens sind. Dies jedoch nur, wenn die Parteien des einzelnen Verfahrens auch zustimmen.
II. Effizienz des geplanten Leitentscheidungsverfahrens zweifelhaft
Das Ziel, die Instanzgerichte zu entlasten, indem ihnen möglichst frühzeitig höchstrichterliche „Leitplanken“ zur Verfügung gestellt werden, dürfte mit dem geplanten Leitentscheidungsverfahren nur bedingt zu erreichen sein.
Voraussetzung auch für eine „Leitentscheidung“ ist, dass die entsprechenden Verfahren es überhaupt zügig bis zum BGH schaffen. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass das Verhindern höchstrichterlicher Entscheidungen aus prozesstaktischen Gründen schon in der Berufungsinstanz gängige Praxis ist. Dieser Trend dürfte sich mit Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens noch verstärken.
Bemerkenswert am Gesetzesentwurf ist, dass das Revisionsgericht erst nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf einer zur Revisionserwiderung gesetzten Frist ein Verfahren zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen soll. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben die Parteien Herren des Verfahrens, wodurch die höchstrichterliche Klärung von entscheidungserheblichen Rechtsfragen durch den BGH verhindert oder verzögert werden kann.
Eine Entlastung der Instanzgerichte würde wirkungsvoller erreicht, wenn nicht der BGH am Ende des Instanzenzuges Verfahren zu Leitentscheidungsverfahren erheben könnte, sondern die Instanzgerichte selbst.
Zu denken wäre an ein Vorlageverfahren nach Art der Vorlage an den EuGH oder die Bündelung vieler Einzelverfahren nach Art des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG). Die Instanzgerichte können entscheidungserhebliche Rechtsfragen für eine Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren schneller identifizieren. Sie sollten die Möglichkeit bekommen, wichtige Rechtsfragen dem BGH zur Entscheidung vorzulegen. Gleichzeitig muss die Möglichkeit bestehen, andere Verfahren, für die dieselben Rechtsfragen von Bedeutung sind, auszusetzen. Hierdurch könnten Massenverfahren bereits ab der ersten Instanz effizienter gesteuert und Rechtssicherheit deutlich schneller erlangt werden.
Bei aller Kritik zeigt der nun vorgelegte Entwurf, dass neue Rechtsinstrumente zur Bekämpfung von Massenklagephänomenen und Entlastung der Justiz im BMJ hohe Priorität haben. Die gesetzgeberische Aktivität ist mit dem Kapitalanleger-Musterverfahren, der Musterfeststellungs- und der im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Abhilfeklage ungebrochen.
Noerr ist Vorreiter bei der Abwehr von Class und Mass-Actions aller Art, und hat u.a. 4 Kapitalanleger-Musterverfahren und die bundesweit erste Musterfeststellungsklage abgewehrt.