Gefährdungsbeurteilung und Software – neue Spielwiese der betrieblichen Mitbestimmung?
Die Einführung neuer Software ruft regelmäßig die Diskussion um Mitbestimmungsrechte auf den Plan. Unter Verweis auf § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG wird dann im Einzelfall darüber gestritten, ob die Software geeignet ist, die Leistung und/ oder das Verhalten der Mitarbeiter zu kontrollieren. Einen weiteren Ansatz verfolgte ein Betriebsrat in dem Fall, der dem Beschluss des Landesarbeitsgerichts (LAG) Berlin-Brandenburg zu Grunde liegt (Entscheidung v. 27.07.2023 – 10 TaBV 355/23).
Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg
Der Arbeitgeber wollte ein Warenmanagementsystem einführen, bei dem die Waren einen RFID-Chip enthalten, dessen Daten mit einem Lesegerät gescannt und über eine sog. Clarity-App verarbeitet werden. Der Betriebsrat begehrte die gerichtliche Einsetzung einer Einigungsstelle, die als Regelungsgegenstand eine „anlassbezogene“ Gefährdungsbeurteilung bzgl. dieser App zum Gegenstand hatte. Er argumentierte, dass es sich bei der App um ein Arbeitsmittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) handelt und daher gem. § 3 BetrSichV eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen sei.
Das LAG Berlin-Brandenburg setzte die Einigungsstelle mit dem Argument ein, dass jedenfalls keine offensichtliche Unzuständigkeit vorliege. Diese Entscheidung mag vor dem Hintergrund der geringen Hürden der offensichtlichen Unzuständigkeit noch irgendwie (wenn auch schwer) nachvollziehbar sein. Die Einigungsstelle wird aber im Rahmen ihrer Zuständigkeitsprüfung feststellen müssen, dass ein Mitbestimmungsrecht in der vom Betriebsrat geltend gemachten Form nicht besteht.
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bzgl. einer Gefährdungsbeurteilung
Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zu Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes (einschließlich einer Gefährdungsbeurteilung) leitet sich aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ab. Es beschränkt sich aber auf das Verfahren zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung, d.h. alle regelungsbedürftigen prozessleitenden Umstände, die einer Gefährdungsbeurteilung vorausgehen (vgl. BAG v. 13.08.2019 – 1 ABR 6/18). Die Einschätzung konkreten Gefährdungen an einem bestimmten Arbeitsplatz unterliegt ebenso wenig der Mitbestimmung wie die Entscheidung, wer sie im Einzelfall durchzuführen hat. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wäre – auch bei einer anlassbezogenen (richtigerweise isolierten) Gefährdungsbeurteilung – jedenfalls auf das Verfahren zur Durchführung dieser beschränkt.
Bereits bestehende Betriebsvereinbarung zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung
Gibt es im Betrieb bereits eine Betriebsvereinbarung, die das Verfahren zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen im Sinne des § 5 ArbSchG im Allgemeinen regelt, bleibt kein Raum mehr für eine weitere Betriebsvereinbarung, die das Verfahren zur isolierten Gefährdungsbeurteilung regelt. Denn die unter § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, § 5 ArbSchG geschlossene Betriebsvereinbarung regelt bereits abstrakt, wie die Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist.
Anspruch des Betriebsrats auf eine isolierte Gefährdungsbeurteilung?
Aber auch, wenn es an einer solchen Betriebsvereinbarung fehlt, ist der Weg zu einer isolierten Gefährdungsbeurteilung nicht eröffnet. Das ArbSchG statuiert in der Generalklausel des § 5 ArbSchG die Pflicht des Arbeitsgebers zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung. Was bei der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen ist, wird in einzelnen auf § 18 ArbSchG gestützte Verordnungen (z.B. ArbStättV, BetrSichV, BioStoffV) konkretisiert.
Bereits eine auf die jeweilige Verordnung beschränkte Gefährdungsbeurteilung liefe der Systematik des Arbeitsschutzes zuwider. Scheidet eine isolierte Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich der jeweiligen Verordnung aus, muss dies erst recht für einzelne in einer Verordnung geregelte Anlässe (z.B. Verwendung eines Arbeitsmittels) gelten.
Jede andere Bewertung würde auch zu einer Überforderung der Betriebsparteien führen: Könnte der Betriebsrat den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Durchführung des Verfahrens einer isolierten Gefährdungsbeurteilung begehren, müssten je nach Art des Betriebs tausende Betriebsvereinbarungen verhandelt werden. Dies diente weder der Wahrung von Mitbestimmungsrechten noch der effektiven Umsetzung des Arbeitsschutzes.
App als Arbeitsmittel im Sinne der BetrSichV?
Was Arbeitsmittel sind, wurde in § 2 Abs. 1 BetrSichV definiert. Danach sind Arbeitsmittel Werkzeuge, Geräte, Maschinen oder Anlagen, die für die Arbeit verwendet werden, sowie überwachungsbedürftige Anlagen. Sämtliche Begriffe haben gemeinsam, dass es sich um physisch greifbare Gegenstände handelt – oder einfach gesagt: man kann sie anfassen. Software und damit eine App ist jedoch nicht greifbar und daher auch kein Arbeitsmittel im Sinne der BetrSichV. Ist die Software verkörpert, z.B. in einem Handlesegerät, dann kann das Handlesegerät und damit mittelbar die Software ein Arbeitsmittel sein. Auch mangels Körperlichkeit der Software hat der Betriebsrat daher in dem vom LAG Berlin-Brandenburg entschiedenen Fall keinen Anspruch auf den Abschluss einer Betriebsvereinbarung bzgl. des Verfahrens zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung der App.
Fazit
Der Fall belegt, dass Arbeitsschutz präsenter geworden ist, sich aber auch neue Spielwiesen für seine Instrumentalisierung eröffnen, wenn nicht rechtzeitig die erforderlichen abstrakt-generellen Regelungen implementiert werden. Gerade der Einsatz von KI-gestützter Software wird diesen Trend noch verstärken.