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Europäischer Gerichtshof bestätigt strengen Ansatz der Europäischen Kommission bei Durchsetzung der EU-Fusionskontrolle

20.07.2023

Am 13. Juli 2023 hat der Europäische Gerichtshof („EuGH“) ein wegweisendes Urteil zur EU-Fusionskontrolle erlassen (Rechtssache C-376/20 P). Zum ersten Mal hat sich das höchste Gericht der Europäischen Union mit der Auslegung und Anwendung des materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstabs der Fusionskontrolle – „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ (significant impediment to effective competition, „SIEC“) – auf nicht-koordinierte Auswirkungen eines Zusammenschlusses in oligopolistischen Märkten befasst. Das Urteil gibt bedeutsamen Aufschluss über die Auslegung wichtiger Konzepte des Prüfungsmaßstabs, über die Bewertung fusionsspezifischer Effizienzgewinne und nicht zuletzt über den maßgeblichen Beweisstandard der Europäischen Fusionskontrollverordnung („FKVO“).

Hintergrund

Im Jahr 2016 hatte die Europäische Kommission („Kommission“) die geplante Übernahme von Telefónica Europe Plc (O2) durch CK Telecoms (Hutchison/Three) untersagt (M.7612); durch die Transaktion hätte sich die Zahl der Mobilfunknetzbetreiber auf dem britischen Markt von vier auf drei verringert. Mit einem bemerkenswerten Urteil vom 28. Mai 2020 (Rechtssache T-399/16) hatte das erstinstanzliche Gericht der Europäischen Union („EuG“) die Verbotsentscheidung der Kommission für nichtig erklärt und damit am Grundverständnis der EU-Fusionskontrolle gerüttelt (unsere Einschätzung dazu finden Sie hier). Angesichts der für die Fusionskontrolle zentralen Fragen, die auf dem Spiel standen, war es nicht überraschend, dass die Kommission das Urteil vor dem Gerichtshof angefochten hat.

Urteil

Der EuGH tagte als Große Kammer – was die besondere Bedeutung dieser Rechtssache unterstreicht – und hob das vorangegangene Urteil des EuG „unter Berücksichtigung des Umfangs, der Art und der Tragweite der im vorliegenden Urteil festgestellten Fehler des [EuG], die sich auf die Argumentation des [EuG] insgesamt auswirken“ mit aller Deutlichkeit auf. Dabei stellte der EuGH insbesondere fest:

  • Das EuG hat den falschen Beweisstandard angewendet. Entgegen der Auffassung des EuG ist die Kommission nicht verpflichtet, das Vorliegen einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs mit „ernsthafter Wahrscheinlichkeit“ nachzuweisen. Die Kommission muss lediglich anhand hinreichend schlüssigen und ausreichenden Beweismaterials nachweisen, dass eine solche Behinderung „eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich“ ist.
  • Das EuG hat wichtige Begriffe verwechselt, die zur Auslegung des SIEC-Tests herangezogen wurden, namentlich die „Beseitigung beträchtlichen Wettbewerbsdrucks“ (Erwägungsgrund 25 FKVO), „wichtige Wettbewerbskraft“ (Rn. 37 der Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse) und „nahe Wettbewerber“ (Rn. 28 der Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse).
    • Nach der FKVO „können Zusammenschlüsse, in deren Folge der beträchtliche Wettbewerbsdruck beseitigt wird, den die fusionierenden Unternehmen aufeinander ausgeübt haben, sowie der Wettbewerbsdruck auf die verbleibenden Wettbewerber gemindert wird, zu einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führen, auch wenn eine Koordinierung zwischen Oligopolmitgliedern unwahrscheinlich ist“. Der EuGH erinnert an das Ziel der FKVO, eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse sicherzustellen, einschließlich solcher mit nicht koordinierten Effekten. Im Gegensatz zur Auffassung des EuG muss die Kommission daher nicht kumulativ nachweisen, dass (i) die fusionierenden Unternehmen beträchtlichen Wettbewerbsdruck aufeinander ausüben und (ii) der Wettbewerbsdruck auf die verbleibenden Wettbewerber verringert wird, um eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs festzustellen.
    • Die Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse erkennen an, dass ein Zusammenschluss, an dem Unternehmen beteiligt sind, deren Einfluss auf den Wettbewerbsprozess größer ist als anhand ihrer Marktanteile oder ähnlicher Messgrößen zu vermuten wäre, den wirksamen Wettbewerb erheblich behindern kann; dies gilt insbesondere, wenn der Markt bereits konzentriert ist. Der EuGH bestätigt diesen Ansatz. Im Gegensatz zur Auffassung des EuG muss die Kommission jedoch nicht nachweisen, dass ein Unternehmen einen besonders aggressiven Wettbewerb betreibt – insbesondere nicht ausschließlich im Hinblick auf die Preise – um als wichtige Wettbewerbskraft eingestuft zu werden.
    • Nach den Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse ist es umso wahrscheinlicher, dass die fusionierenden Unternehmen ihre Preise spürbar anheben und wirksamen Wettbewerb erheblich behindern werden, je höher das Maß an Substituierbarkeit zwischen ihren Produkten ist (d.h. je näher die fusionierenden Unternehmen zueinander im Wettbewerb stehen). Der EuGH bestätigt diesen Ansatz. Entgegen der Auffassung des EuG bedeutet dies jedoch nicht, dass nur ein Zusammenschluss zwischen „besonders nahen“ Wettbewerbern wirksamen Wettbewerb erheblich behindern könnte. Der EuGH erinnert daran, dass auch hohe Margen vor dem Zusammenschluss – die darauf hindeuten können, dass die an dem Zusammenschluss beteiligten Unternehmen weder die engsten noch besonders nahe Wettbewerber sind – spürbare Preiserhöhungen nach dem Zusammenschluss wahrscheinlicher machen können. Aus dem Urteil lässt sich daher kein allgemeiner Grundsatz ableiten, wie nahe sich die Wettbewerber sein müssen, damit ein Zusammenschluss zu einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt. Zudem ist die Wettbewerbsnähe nur einer von mehreren für die Beurteilung relevanten Faktoren.
    • Der EuGH weist darauf hin, dass diese Begriffe nur einige der Faktoren darstellen, die für die materiell-rechtliche Beurteilung einer Transaktion relevant sind und nicht zu formalistisch verstanden werden sollten.
  • Schließlich hat das EuG die Anforderungen für die Bewertung von Effizienzgewinnen nicht zutreffend ausgelegt. Die Kommission ist nicht dazu verpflichtet, „standardmäßige“ Effizienzsteigerungen in ihre quantitative Analyse einzubeziehen, die mit allen Zusammenschlüssen einhergehen sollen. Die Beweislast für das Vorhandensein aller Arten von Effizienzvorteilen liegt allein bei den beteiligten Unternehmen.

Anmerkung

Die vorangegangene Entscheidung des EuG war ein großer Rückschlag für den Prüfungsansatz der Kommission bei der Beurteilung nicht-koordinierter Auswirkungen, da das EuG zentrale Elemente der kommissionseigenen Auslegung (und expansiven Anwendung) des SIEC-Tests verworfen hatte. Der vom EuG vorgeschlagene Beweisstandard, welcher der Kommission die Untersagung wettbewerbswidriger Zusammenschlüsse übermäßig erschwert hätte, wurde als unangemessen hoch angesehen. Das Urteil des EuGH ist daher ein Erfolg für die Kommission. Es bestätigt die bisherige Rechtslage, die Rechtsprechung des EuGH und die Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse. Das EuG wird nun die Hinweise des EuGH in seinem neuen Urteil berücksichtigen müssen.

Während die Klarstellungen des EuGH zu begrüßen sind (siehe z. B. die Verwirrung über den relevanten Beweisstandard, die sich auch an der unterschiedlichen Terminologie des EuG in seinem jüngsten thyssenkrupp-Urteil zeigt, Rechtssache T-584/19, Rn. 280), erschließt sich die Bedeutung des Urteils aus der Betrachtung des alternativen Szenarios. Jede andere Entscheidung hätte erhebliche Auswirkungen auf die Fallbearbeitung durch die Kommission und die Wirksamkeit der EU-Fusionskontrolle insgesamt gehabt. Das Urteil räumt der Kommission Flexibilität bei der Anwendung der Konzepte der FKVO und der Bewertung des Vorliegens einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs auf oligopolistischen Märkten ein, ohne einen zu hohen Beweisstandard zu verlangen. Das Urteil wird die Kommission damit darin bestärken, problematische Zusammenschlüsse auch in Zukunft zu untersagen.

Gleichzeitig wird durch das Urteil die Messlatte für die gerichtliche Kontrolle von Kommissionsentscheidungen nicht höher gelegt. Der Prüfungsmaßstab ist nicht auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkt, und der Kommission wird ein Ermessensspielraum nur bei der Anwendung der Grundregeln der FKVO in Bezug auf die ökonomische Bewertung einer Transaktion eingeräumt. Gleichwohl bleibt die Anfechtung von Kommissionsentscheidungen ein schwieriges Unterfangen. CK Telecoms war erst der sechste Fall, in dem die EU-Gerichte eine Verbotsentscheidung für nichtig erklärt haben. Zusammenschlussbeteiligte und potenzielle Kläger werden die Position des EuGH aufmerksam zur Kenntnis nehmen.