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EuGH-Urteil: Keine Klage auf Kartell­schadensersatz am Sitz der nur mittelbar geschädigten Mutter­gesellschaft

15.07.2024

In seinem Urteil vom 4. Juli 2024 (CURIA - Documents (europa.eu); C-425/22 - MOL) befasst sich der Gerichtshof der Europäischen Union („EuGH“) mit der Auslegung der Zuständigkeitsregelung des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 („Brüssel-Ia-VO“) im Zusammenhang mit Kartellschadensersatzklagen. Nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO kann jemand im Falle einer unerlaubten Handlung in einem anderen Mitgliedsstaat vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist.

Im konkreten Fall ging es um eine Schadensersatzklage von einer ungarischen Unternehmensgruppe („MOL“) gegen einen LKW-Hersteller im Nachgang der Entscheidung der Europäischen Kommission zum LKW-Kartell. Der EuGH hatte nach Anrufung durch den obersten ungarischen Gerichtshof („Kúria“) zu entscheiden, ob nach den europäischen Zuständigkeitsregeln der Brüssel-Ia-VO eine Muttergesellschaft die Kartellschäden, die ihren Tochtergesellschaften in anderen Ländern entstanden sind, am Sitz der Muttergesellschaft einklagen kann.

Entscheidung des EuGH – „Wirtschaftliche Einheit“ auf Klägerseite für Gerichtsstandsbestimmung relevant?

Eine zentrale Frage war, ob MOL als Muttergesellschaft aufgrund der Theorie der "wirtschaftlichen Einheit" die internationale Zuständigkeit der Gerichte an ihrem Sitz in Ungarn beanspruchen konnte. Die Kúria legte dem EuGH insofern die Frage vor, ob der Sitz der Muttergesellschaft als der Ort des schädigenden Ereignisses im Sinne des Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO angesehen werden kann, wenn Ersatz von Schäden begehrt wird, die den Tochtergesellschaften entstanden sind.

Die Klägerin stützte sich für die gebündelte Betrachtung der Schäden ihrer Unternehmensgruppe auf die Behauptung, sie stelle mit ihren Tochterunternehmen eine „wirtschaftlichen Einheit“ im Sinne der Rechtsprechung der europäischen Gerichte dar. Sie leitete die internationale Zuständigkeit der ungarischen Gerichte aus Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO her, da das „schädigende Ereignis“ im Sinne dieser Bestimmung für alle betroffenen Gesellschaften damit auch an ihrem Sitz als dem Mittelpunkt der wirtschaftlichen und finanziellen Interessen der aus ihr und ihren Tochtergesellschaften bestehenden Unternehmensgruppe eingetreten sei.

Es wird zwar allgemein davon ausgegangen, dass eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft eine „wirtschaftliche Einheit“ bilden, wenn die Tochtergesellschaft im Wesentlichen einem bestimmenden Einfluss der Muttergesellschaft unterliegt und nicht eigenständig handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile des EuGH vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑516/15 P, Rn. 52 und 53, sowie vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, Rn. 43). Welche Folgen das Vorhandensein einer „wirtschaftlichen Einheit“ jedoch bei Anwendung verschiedener europäischer Vorschriften hat, ist damit noch nicht geklärt.

Bisher hatte der EuGH nur entschieden, dass das Konzept auf Beklagtenseite Anwendung finden kann. In den Rechtssachen Skanska (C-724/17) und Sumal (C-882/19) stellte der EuGH fest, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch die Muttergesellschaft verklagt werden kann, wenn die Tochtergesellschaft sich wettbewerbswidrig verhalten hat (und umgekehrt). Dies wir damit begründet, dass Mutter- und Tochtergesellschaft(en) aufgrund ihrer wirtschaftlichen Einheit ein einziges Unternehmen bilden, das Urheber der Zuwiderhandlung ist (vgl. Urteile des EuGH vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑516/15 P, Rn. 52 und 53, sowie vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, Rn. 43). Dieser Gedanke ist auf Klägerseite bereits nicht ohne Weiteres übertragbar.

Der EuGH stellte sodann in seinem Urteil vom 04. Juli 2024 auch klar, dass die „wirtschaftliche Einheit“ im Kontext der gerichtlichen Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO nicht entscheidend sei. Vielmehr kommt es – wie auch sonst bei Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO – darauf an, wo der unmittelbare Schaden durch die wettbewerbswidrigen Handlungen eingetreten sei. Entscheidend ist dabei auch nur der Erstschaden und nicht der Ort, an dem der Geschädigte einen Vermögensschaden in Folge eines in einem anderen Mitgliedstaat entstandenen Erstschadens erlitten hat (vgl. hierzu Urteile des EuGH vom 9. Juli 2020, Verein für Konsumenteninformation/Volkswagen AG, C-343/19, Rn. 26, sowie vom 19. September 1995, Marinari, C-364/93, Rn. 14 und 15). Nur letzteres wäre jedoch bei der klagenden Muttergesellschaft MOL denkbar. Da die direkten finanziellen Auswirkungen des Kartellrechtsverstoßes bei den Tochtergesellschaften in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten auftraten, lag die gerichtliche Zuständigkeit nicht am Sitz der Muttergesellschaft in Ungarn, sondern bei den Gerichten der Mitgliedstaaten, in denen die Tochtergesellschaften ihren Sitz haben oder wo die kartellbetroffenen Produkte erworben wurden.

Fazit und Ausblick

Der EuGH betont in seiner Entscheidung die Bedeutung der klaren und einheitlichen Anwendung der Zuständigkeitsregeln innerhalb der EU und schließt eine Ausdehnung der Zuständigkeit aufgrund einer „wirtschaftlichen Einheit“ aus, wenn es um die Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit gemäß Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO geht.

Diese Auslegung des EuGH hindert auch mutmaßlich von einem Kartell Geschädigte nicht daran, ihre Schadensersatzansprüche gegen in der EU ansässige Kartellanten geltend zu machen. Denn nach Art. 4 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO ist stets die Möglichkeit gegeben, Schädiger an ihrem Sitz zu verklagen. Nach Art. 8 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO können Personen auch am Sitz eines anderen Beklagten gemeinschaftlich verklagt werden, wenn zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

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