News

EuGH entscheidet über die Rechts­figur der „Kunden­anlage“ im EnWG

13.12.2024

Mit seinem Urteil vom 28.11.2024 (Rs. C-293/23) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens über die Rechtsfigur der sog. „Kundenanlage“ im Sinne des § 3 Nr. 24a (bzw. Nr. 24 b) EnWG entschieden. Der EuGH stellt klar, dass die nationale Begriffsschöpfung der Kundenanlage keine Abweichung von der Reichweite des unionsrechtlichen Begriffs des Verteilernetzes im Sinne der sog. Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie (Richtlinie EU 2019/944) beinhalten darf und die in dieser Richtlinie für die Netzbetreiber vorgesehenen Pflichten nicht durch die Einstufung einer Anlage als „Kundenanlage“ nach deutschem Recht entfallen können. Damit trifft der EuGH zugleich eine grundsätzliche Aussage zur Regelungssystematik der deutschen Netzregulierung im Verhältnis zu ihrem unionsrechtlichen Rahmen, die nun eine weitere gesetzgeberische Anpassung des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) notwendig machen wird und auch Unternehmen ggf. vor einen regulatorischen Anpassungsdruck stellt.

Zum Sachverhalt

Das Urteil des EuGH erging im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auf Vorlage durch den Bundesgerichtshof (BGH). Dem liegt ein nationales Verfahren zugrunde, in dessen Rahmen ein Energieversorgungsunternehmen mit einem (öffentlich-rechtlichen) Netzbetreiber über den Anschluss einer spezifischen Energieversorgungsanlage als Kundenanlage an das örtliche Verteilernetz stritt. Konkret handelte es sich um zwei verbundene Blockheizkraftwerke mit 20 kW und 40 kW Nennleistung, welche das Versorgungsunternehmen errichtete, um damit vor Ort mehrere Wohnblöcke mit über 200 Wohneinheiten selbstständig mit Strom (jährliche Durchflussmenge von bis zu 1.000 MWh) sowie einem Nahwärmenetz zu versorgen. Diese Anlage wollte das Versorgungsunternehmen an das allgemeine Verteilernetz anschließen, was die Netzbetreiberin mit der Begründung verweigerte, dass es sich bei den Anlagen nicht um Kundenanlagen im Sinne der §§ 3 Nr. 24a bzw. § 20 Abs. 1d EnWG handele und damit ein Anspruch auf Anschließung nicht bestehe. Der im Rahmen einer Rechtsbeschwerde mit dem Verfahren befasste BGH beschloss, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die Begriffsbestimmung der Kundenanlage in § 3 Nr. 24a EnWG iVm. § 16 EnWG (und die damit einhergehende Abgrenzung zu einem Verteilernetz) mit den Vorgaben der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie vereinbar ist.

Die Kundenanlage im Kontext der nationalen Netzregulierung

Bei der Rechtsfigur der Kundenanlage im Sinne des § 3 Nr. 24a bzw. Nr. 24b EnWG handelt es sich um eine Begriffsschöpfung des deutschen Gesetzgebers, die sich im Unionsrecht nicht unmittelbar wiederfindet. Mit der EnWG-Novelle aus dem Jahr 2011 ordnete der Gesetzgeber die bestehenden Netzkategorien neu und führte die Kundenanlage als eigenen gesetzlichen Begriff ein, der im Wesentlichen eine Abgrenzungsfunktion zu anderen (regulierten) Einrichtungen der Energieinfrastruktur erfüllen soll. Das EnWG sieht die Kundenanlage dabei in zwei Ausprägungen vor: Zum einen als allgemeine Kundenanlage zur Energieabgabe nach § 3 Nr. 24a EnWG und zum anderen als Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung gemäß § 3 Nr. 24b EnWG. Die Unterscheidung hat in der Praxis keine bedeutende Auswirkung.

Begriffliche Voraussetzung der Kundenanlage nach § 3 Nr. 24 a EnWG ist, dass es sich um eine Anlage zur Energieabgabe auf einem räumlich zusammengehörenden Gebiet handelt, die mit einem Energieversorgungsnetz oder mit einer Energieerzeugungsanlage verbunden ist, und dass sie für einen unverfälschten Wettbewerb des Energiemarktes unbedeutend ist und die durchgeleitete Energie zum Zwecke der Belieferung der angeschlossenen Letztverbraucher diskriminierungsfrei und unentgeltlich zur Verfügung gestellt wird. Letzteres bedeutet allerdings nicht, dass dem Letztverbraucher ein Anschluss an die Energieanlage kostenlos angeboten werden muss. Laut Gesetzesbegründung ist das Erfordernis der Unentgeltlichkeit etwa auch erfüllt, wenn zwar kein direkt verbrauchsabhängiger Energiepreis erhoben wird, aber die Nutzung der Kundenanlage etwa im Rahmen eines Gesamtpauschalpreises vergütet wird (bspw. im Rahmen eines Miet- und Pachtvertrages).

Die Begriffsvoraussetzungen von Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung gemäß § 3 Nr. 24b EnWG sind daran angelehnt. Eine solche Kundenanlage nach § 3 Nr. 24b EnWG liegt vor, wenn ein Großteil der transportierten Energie vom Betreiber der Kundenanlage selbst oder von einem mit ihm verbundenen Unternehmen verbraucht wird. Anders als nach § 3 Nr. 24a EnWG ist hingegen nicht erforderlich, dass sie im vorgenannten Sinne wettbewerbsneutral sind.

Beide Begriffe der Kundenanlage dienen nach dem Willen des Gesetzgebers dazu, klarzustellen, an welchem Punkt das regulierte Netz beginnt und endet. Folglich konzipiert § 3 EnWG beide Formen der Kundenanlage als Ausnahmetatbestand zu den regulierten Teilen des Stromnetzes. Die Systematik des § 3 EnWG sieht insbesondere vor, dass Kundenanlagen nicht Teil des Energieversorgungsnetzes gemäß § 3 Nr. 16 EnWG sind und ihr Betreiber damit weder Betreiber eines Energieversorgungsnetzes im Sinne des § 3 Nr. 4 EnWG noch Energieversorgungsunternehmen gemäß § 3 Nr. 18 EnWG ist. Die Rechtsfolgen der Einstufung als Kundenanlage sind damit in beiden Fällen identisch und bringen diverse regulatorische Erleichterungen mit sich:

Kundenanlagen unterliegen nicht den Entflechtungsvorgaben des EnWG und auch Netzentgelte werden für ihre Nutzung nicht erhoben. Dies bedeutet für Betreiber eine erhebliche Erleichterung. Da die innerhalb der Anlage zirkulierende Energie an die angeschlossenen Letztverbraucher (mittelbar auch entgeltlich) verteilt werden kann, ohne dass Umlagen oder Netzentgelte anfallen, ermöglicht die Rechtsfigur der Kundenanlage eine wirtschaftlich attraktive dezentrale Eigenversorgung jenseits der regulatorischen Vorgaben für Verteilernetze. Denkbar ist auch, dass die Kundenanlage einen Teil der benötigten Energie selbst erzeugt und im Übrigen aus dem Netz bezieht. Hier besteht der Anspruch auf diskriminierungsfreien Netzzugang gemäß § 20 EnWG, der in Bezug auf Kundenanlagen in § 20 Abs. 1d EnWG weiter konkretisiert wird.

Die Einstufung einer Anlage als Kundenanlage wirkte sich auch auf der Ebene der im Dezember 2023 ausgelaufenen Strompreisbremse nach dem Strompreisbremsegesetz (StromPBG) für die Betreiber günstig aus. Das Gesetz nimmt in wesentlichen Teilen Bezug auf die Elektrizitätsversorgungsunternehmen im Sinne des § 2 Nr. 6 StromPBG. Mit der Strompreisbremse wurden Unternehmen adressiert, die im Sinne dieser Begriffsdefinition Strom über ein Netz an Letztverbraucher liefern. Unternehmen, die Strom nicht über ein Netz, sondern etwa innerhalb einer Kundenanlage im Sinne des § 3 Nr. 24a EnWG abgeben, erfüllen diese Voraussetzungen nicht und waren daher im Rahmen der Strompreisbremse den Endverbrauchern nach deutschem Recht gleichgestellt (siehe das FAQ des BMWK). Sie erhielten ggf. selbst eine Entlastung gemäß Teil 2 des StromPBG.

Die regulatorischen Erleichterungen, die eine Einstufung als Kundenanlage mit sich bringt, dürften mit der aktuellen EuGH-Entscheidung nunmehr erheblich an Bedeutung verlieren. Offen ist, ob die Entscheidung des EuGH einen (rückwirkenden) Einfluss auf die Entlastungen nach dem StromPBG haben, da diese nicht unmittelbar Vorgaben der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie im nationalen Recht konkretisiert hat, sondern eine danebenstehende strukturelle Förderungsmaßnahme bildete. Die Entscheidung des EuGH konsequent zu Ende gedacht, könnten ggf. nicht die Betreiber von Kundenanlagen als Letztverbraucher anspruchsberechtigt gewesen sein, sondern die von diesen Anlagen Belieferten.

EuGH: Vorrang der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie vor dem EnWG

Die Begriffsmerkmale der Kundenanlage im Sinne des EnWG finden sich auf europäischer Ebene nicht wieder. Die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie kennt in diesem Kontext vor allem den Begriff der „Verteilung“ in Art. 2 Nr. 28, der definiert wird als „Transport von Elektrizität mit Hoch, Mittel- oder Niederspannung über Verteilernetze zur Belieferung von Kunden […] mit Ausnahme der Versorgung.“ Aus unionsrechtlicher Perspektive kann der Begriff des Verteilernetzes damit nur unter Bezugnahme auf die beiden in Art. 2 Nr. 28 der Richtlinie vorgesehenen Kriterien bestimmt werden, namentlich das Kriterium der Spannungsebene und das Kriterium der Kunden, an die der Strom weitergeleitet wird. Die zur Einstufung einer Anlage als Kundenanlage vorgesehenen Kriterien des EnWG bilden diesen Begriff (wie dargestellt) nicht ab.

Vor diesem Hintergrund hat der EuGH in seiner Entscheidung im Kern an den allgemeinen Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht erinnert und diesen Grundsatz auf die Begriffsbestimmungen des EnWG übertragen. Hierbei hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts die in der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie begründeten Pflichten für Netzbetreiber nicht durch abweichende nationale Bestimmungen des Netzbegriffs unterlaufen werden dürfen. Dies folgt nach Ansicht des EuGH bereits aus dem Sinn und Zweck der Richtlinie, die eine wesentliche Rolle bei der Integration der nationalen Energiemärkte spielt. Eine Befugnis der Mitgliedstaaten zu einer abweichenden Begriffsbestimmung könne laut EuGH dazu führen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl an Anlagen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden und somit ihre marktvereinheitlichende Wirkung unterlaufen werde. Dies widerspreche nicht nur dem Gedanken der Marktintegration, sondern sei auch aus Gründen des Wettbewerbs und des Verbraucherschutzes nicht hinnehmbar.

Insgesamt sind nach diesen Erwägungen nunmehr Kriterien des nationalen Rechts, welche die regulatorischen Pflichten von Verteilernetzbetreibern von weiteren begrifflichen Anforderungen abhängig machen, unzulässig.

Ausblick und praktische Folgen der Entscheidung

Die Reichweite der regulatorischen Auswirkungen der Entscheidung bleibt in konkreter Form abzusehen. Für die betroffenen Akteure sind die potenziellen Auswirkungen indes erheblich. So kann aus dieser Entscheidung folgen, dass die Betreiber jener Kundenanlagen künftig alle Regelungen für Verteilernetzbetreiber erfüllen müssen, angefangen mit der Genehmigungspflicht bis hin zu den Melde- und Publikationspflichten. Auch eine netzentgelt- und umlagefreie Lieferung bliebe dann verwehrt.

Eindeutig hat der EuGH jedenfalls die Ausklammerung von Kundenanlagen im Sinne des EnWG aus dem unionsrechtlichen Verteilernetzbegriff für unzulässig erklärt. Nun muss der nationale Gesetzgeber auf diese Entscheidung reagieren und jedenfalls seine Begriffsbestimmungen in § 3 EnWG entsprechend anpassen. Ob die Rechtsfigur der Kundenanlage dabei vollständig wegfallen wird oder in stark eingeschränktem Umfang aufrechterhalten werden kann, ist nicht zwingend vorgezeichnet. Denn der EuGH hat nicht die Existenz der Rechtsfigur „Kundenanlage" an sich, sondern nur die durch sie bewirkte Einschränkung des Anwendungsbereichs der Netzbetreiberpflichten nach der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie für unionsrechtswidrig befunden.

Die Entscheidung des EuGH unterstreicht jedoch die Grenzen des Handlungsspielraums nationaler Gesetzgebung im Hinblick auf Befreiungen einzelner Energieversorgungssysteme von den Anforderungen des Unionsrechts. Das Urteil stellt letztlich die Praxis dezentraler Energieversorgung jenseits der regulierten Verteilernetze insgesamt auf den Prüfstand. Betreiber entsprechender Anlagen müssen sich darauf einstellen, in Zukunft den vollständigen regulatorischen Anforderungen an Verteilernetzbetreiber zu unterliegen und sollten ihr Geschäftsmodell entsprechend prüfen, insbesondere unter Hinzuziehung umfassender juristischer Expertise.