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Der Bundestag beschließt die „Corona-Notbremse“

26.04.2021

Am 21. April 2021 verabschiedete der Deutsche Bundestag das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, welches nach der Sondersitzung des Bundesrates am 22. April 2021 sowie der Gegenzeichnung durch den Bundespräsidenten und Verkündung noch am 23. April 2021 in Kraft getreten ist. Mit dem Gesetz wird § 28b in das Infektionsschutzgesetz (IfSG) eingefügt, der die bundesweit bis zum 30. Juni 2021 geltende sogenannte „Corona-Notbremse“ regelt. Daneben wird die Bundesregierung im ebenfalls neu aufgenommen § 28c IfSG ermächtigt, bundesweite Sonderregelungen für Geimpfte und Getestete zu schaffen.

Durch die Regelung einer bundesweit verbindlichen „Notbremse“ ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 will der Bundesgesetzgeber nach eigenen Angaben Schutzmaßnahmen nach bundeseinheitlichen Standards schaffen. Hierdurch sollen Lücken im Infektionsschutz der Länder geschlossen werden, die bislang durch die bundesuneinheitliche Auslegung der gemeinsam von den Ländern in den Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Maßnahmen entstanden seien.

Doch nicht nur die viel diskutierten Ausgangsbeschränkungen und Schulregelungen, auch die neuen Vorschriften für den Einzelhandel, für Arbeitgeber und Beschäftigte sowie die Regelung zum Verhältnis zwischen den bundesweiten Schutzmaßnahmen und den abweichenden Maßnahmen der Länder und Kommunen werden in den nächsten Wochen und Monaten absehbar zu viel Rechtsunsicherheit bei Unternehmen und in der Bevölkerung  führen. Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz sind bereits anhängig.

1. Überblick über die bundesweiten Schutzmaßnahmen

§ 28b IfSG sieht in elf Absätzen eine Vielzahl von Einzelbestimmungen vor, über die im Folgenden nur ein Überblick gegeben werden kann.

Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die durch das Robert Koch-Institut veröffentlichte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) den Schwellenwert von 100, so treten die folgenden bundesweiten Schutzmaßnahmen gemäß § 28b Abs. 1 IfSG in Kraft:

  • Kontaktbeschränkung auf private Zusammenkünfte mit nur einer weiteren haushaltsfremden Person,

  • Ausgangssperre zwischen 22 und 5 Uhr,

  • Schließung von Freizeiteinrichtungen im engeren und weiteren Sinne,

  • Schließung des Einzelhandels (hierzu unter 2. noch ausführlicher),

  • Schließung von Kultureinrichtungen und Veranstaltungsverbot,

  • Beschränkung des Freizeit- und Leistungssports,

  • Schließung von Gaststätten,

  • Verbot von körpernahen Dienstleistungen,

  • Beschränkung der Personenbeförderung sowie

  • Verbot von Übernachtungsangeboten zu touristischen Zwecken.

Das Gesetz enthält verschiedene Ausnahmetatbestände (z.B. private Zusammenkünfte mit Ehe- oder Lebenspartnerinnen und -partnern, Verlassen der Wohnung aus beruflichen Gründen, Öffnung von Zoos, Verkauf von Speisen und Getränken außer Haus, Öffnung von Friseurbetrieben), die im Einzelnen an dieser Stelle jedoch nicht vollständig aufgezählt werden können.

Im Schul- und Hochschulbetrieb sowie in der Erwachsenenbildung ist gemäß § 28b Abs. 3 IfSG eine zweimal wöchentliche Testpflicht für Schüler/-innen und Lehrpersonal zur Teilnahme am Präsenzunterricht zu beachten, bei einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100 nur Wechselunterricht zulässig und bei Überschreiten des Inzidenzschwellenwertes von 165 Präsenzunterricht untersagt.

Alle Maßnahmen treten nach § 28b Abs. 2 IfSG wiederum am übernächsten Tag außer Kraft, wenn ab dem Folgetag des Inkrafttretens an fünf aufeinander folgenden Werktagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100 bzw. 150 unterschreitet. Sonn- und Feiertage unterbrechen die Zählung nicht.

§ 28b Abs. 7 IfSG regelt losgelöst von Inzidenzschwellenwerten eine Home-Office-Pflicht für Arbeitgeber und Beschäftigte, soweit beiderseits keine zwingenden Gründe entgegenstehen.

Darüber hinaus wird die Bundesregierung durch § 28b Abs. 6 IfSG ermächtigt, in Rechtsverordnungen sowohl Präzisierungen und Erleichterungen zu den beschriebenen Maßnahmen zu treffen als auch zusätzliche Ge- oder Verbote für den Fall einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 zu bestimmen.

2. Anwendungsschwierigkeiten für den Einzelhandel

Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zeichnet sich ab, dass die Anwendung der bundesweiten „Notbremse“ im Verhältnis zu den Schutzmaßnahmen der Länder und Kommunen sich als schwierig und undurchsichtig erweisen kann.

Anwendungsherausforderungen können sich vor allem aus dem Ineinandergreifen von Bundes- und Landesregelungen ergeben. § 28b Abs. 5 IfSG regelt allgemein das Verhältnis zwischen der bundesweiten „Notbremse“ und den Schutzmaßnahmen der Länder und Kommunen, wonach weitergehende Schutzmaßnahmen auf Grundlage des IfSG unberührt bleiben, hierunter diejenigen aus den Länderverordnungen und den Allgemeinverfügungen der Kommunen.

Insbesondere der Einzelhandel wird vor die große Herausforderung gestellt, die für seinen Betrieb besonders ausdifferenzierten Schutzmaßnahmen im uneinheitlichen Mehrebenen-Regelungsgefüge rechtmäßig anzuwenden und Geldbußen in Höhe von bis zu 25.000 EUR bei Verstößen gegen die bundesweiten Schutzmaßnahmen zu vermeiden.

So ordnet die bundesweite „Notbremse“ in § 28b Abs. 1 Nr. 4 IfSG ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 die allgemeine Schließung der Ladengeschäfte an und erlaubt nur die Abholung vorbestellter Waren (sog. Click & Collect) und bis zu einem Inzidenzwert von 150 die Öffnung für einzelne Kunden bei vorheriger Terminbuchung (sog. Click & Meet) bei Nachweis eines negativen „Corona-Tests“ und Kontaktnachverfolgung. Hiervon ausgenommen sind einzelne Ladengeschäfte des täglichen Bedarfs, die losgelöst von Inzidenzschwellenwerten unter Beachtung bestimmter Maßgaben offen bleiben dürfen.

Abweichend hiervon sehen die Schutzmaßnahmen der Länder zum Teil strengere Verbote hinsichtlich der allgemeinen Schließung der Ladengeschäfte vor, indem sie den Kreis der privilegierten Ladengeschäfte des täglichen Bedarfs enger ziehen. Zum Teil werden jedoch mildere Maßnahmen zur Öffnung der Ladengeschäfte für einzelne Kunden getroffen, soweit beispielsweise Click & Meet auch bei höheren Inzidenzschwellenwerten zulässig ist.

Ein bundesweit agierendes Einzelhandelsunternehmen muss in der Folge für die Öffnung seiner Ladengeschäfte im jeweiligen Bundesland nicht nur die verschiedenen Schutzmaßnahmen der Länder und Kommunen beachten, sondern mit Inkrafttreten der „Notbremse“ darüber hinaus jeweils das Ineinandergreifen von Bundes- und Landesregelungen bestimmen und entweder die bundesweite „Notbremse“ oder die jeweiligen Schutzmaßnahmen der Länder oder sogar beide kombiniert anwenden.

3. Weitere rechtliche Herausforderungen

Die „Notbremse“ wirft darüber hinaus neben der bekannten Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einzelner Schutzmaßnahmen mit ihrem neuen Regulierungsansatz für die Pandemiebekämpfung auch bislang gänzlich ungeklärte rechtliche Fragen auf.

Die offenen Fragen zur verfassungsmäßigen Rechtfertigung der einzelnen Maßnahmen liegen auf der Hand: Die bundesweiten Schutzmaßnahmen greifen ohne weiteren Vollzugsakt zum Teil in sensible Grundrechte mit hoher Intensität, aber geringerer Effektivität und „Passgenauigkeit“ ein. Sie müssen sich trotz der Dynamik der Pandemie an den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit messen lassen.

Mit dem Einfügen von § 28b IfSG wird zudem regulatorisch ein neuer Weg zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie beschritten. Nachdem vorrangig bisher die Landesregierungen ermächtigt waren, mittels Länderverordnungen Schutzmaßnahmen zu erlassen, werden diese nun durch zwei neue Regelungsebenen des Bundes überlagert. Zum einen sind mit der „Notbremse“ unmittelbar im Gesetz bundesweite Schutzmaßnahmen geregelt und zum anderen wird die Bundesregierung ermächtigt, in Bundesverordnungen zusätzliche Ge- und Verbote zu bestimmen. Fraglich ist an dieser Stelle bereits, ob der Bundesgesetzgeber seinem Anspruch gerecht wird, mit der „Notbremse“ einen rechtlichen Rahmen für einen bundesweit einheitlichen Infektionsschutz zu schaffen oder inwieweit der rechtliche Gestaltungsspielraum der Länder bei der landeseigenen Pandemiebekämpfung im Hinblick auf § 28b Abs. 5 IfSG hier entgegensteht.

Auch wirkt sich die neue Regelungstechnik auf die Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen aus. Denn die unmittelbar im Gesetz geregelten bundesweiten Schutzmaßnahmen entziehen sich der fachgerichtlichen Kontrolle, sodass deren Prüfung allein in den Händen des Bundesverfassungsgerichts liegt.

Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes hat jedenfalls schon vor Inkrafttreten ihren Schatten vorausgeworfen. So äußerten Wirtschaftsverbände scharfe Kritik, dass die beschlossenen Corona-Maßnahmen in wesentlichen Bereichen am Ziel vorbeigingen und vor allem als Symbolpolitik zu verstehen seien. Zudem fehle es immer noch an Entschädigungs- oder Kompensationsregelungen für Unternehmen, deren Geschäftsbetrieb untersagt wird. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anlässlich der von verschiedenen Akteuren schon eingereichten Verfassungsbeschwerden wird demnach wohl nicht sämtliche praktischen Schwierigkeiten und rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der bundesweiten „Notbremse“ abschließend klären können.