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Arbeitnehmer­überlassung im „Schein“-Gemeinschafts­betrieb

31.07.2023

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einer für Arbeitgeber beachtenswerten Entscheidung die Bedeutung einer fingierten betriebsverfassungsrechtlichen Organisation für das (Nicht-)Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebs erörtert. Diese für die Gestaltungsmöglichkeiten eines Fremdpersonaleinsatzes wichtige Entscheidung wurde bereits Ende letzten Jahres veröffentlicht, hat aber überraschend wenig Aufmerksamkeit erlangt.

Der zugrunde liegende Fall

Der Fall, den das BAG (Link: https://www.bundesarbeitsgericht.de/entscheidung/9-azr-337-21/; Urt. v. 24.5.2022 – 9 AZR 337/21) zu entscheiden hatte, stellte sich vereinfacht wie folgt dar: Die Beklagte zu 1 ist die alleinige Gesellschafterin der Beklagten zu 2 und betreibt einen Flughafen. Der Kläger ist seit dem 17.06.2004 bei der Beklagten zu 2, die im Besitz einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis ist, als Leiharbeitnehmer beschäftigt.

Die Beklagte zu 2 überließ der Beklagten zu 1 den Kläger ab 2004 als Leiharbeitnehmer. Die Beklagten und die V-GmbH schlossen zum 01.07.2017 Vereinbarungen für einen Gemeinschaftsbetrieb, die Regelungen zu einem einheitlichen Leitungsapparat durch einen gemeinsamen Personalbereich für die Mitarbeiter aller Unternehmen und zur Führung der operativen Bereiche enthielten. Auch Fahrzeuge, IT-Systeme und Räumlichkeiten wurden gemeinsam genutzt. Die Beklagten legten zudem ihre jeweiligen Personalabteilungen räumlich zusammen. Die Hierarchieebenen vertraten sich gegenseitig und führten Personalgespräche gemeinsam. In der Folgezeit schlossen die beteiligten Unternehmen mehrere leistungsbezogene Kooperationsverträge für einzelne Aufgabenbereiche.

Die im Gemeinschaftsbetrieb gemeinsam beschäftigten Arbeitnehmer wurden durch unterschiedliche Betriebsräte vertreten. Diese betriebsverfassungsrechtliche Trennung wurde vorgegeben durch Landesbezirkstarifverträge, die ausdrücklich bestimmten, dass in dem Gemeinschaftsbetrieb kein gemeinsamer Betriebsrat gebildet werden sollte. Der Kläger meint, zwischen ihm und der Beklagten zu 1 bestehe ein Arbeitsverhältnis, da er ihr auf Dauer überlassen worden sei.

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Während der Kläger in den ersten beiden Instanzen erfolglos geblieben ist, hob das BAG die Entscheidung auf und verwies sie zurück an das Landesarbeitsgericht.

Das BAG bestätigte zunächst den in der Rechtsprechung gefestigten Grundsatz, dass sich Arbeitnehmerüberlassung und Gemeinschaftsbetrieb denknotwendig gegenseitig ausschließen.

Ein Gemeinschaftsbetrieb mehrerer Unternehmen liege vor, so das BAG schulbuchmäßig, wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel mehrerer Unternehmen zu arbeitstechnischen Zwecken zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat betriebsbezogen gesteuert wird. Dabei müssen sich die beteiligten Unternehmen zumindest stillschweigend zu einer gemeinsamen Führung rechtlich verbunden haben, so dass der Kern der Arbeitgeberfunktionen im sozialen und personellen Bereich von derselben institutionellen Leitung ausgeübt wird.

Im zu entscheidenden Fall schienen diese Voraussetzungen – jedenfalls auf den ersten Blick – auch vorzuliegen. Die Unternehmen hatten umfangreiche Vereinbarungen getroffen, um einen Gemeinschaftsbetrieb zu errichten.

Das BAG stellte jedoch klar, dass es nicht auf die vertraglichen Regelungen, sondern auf die tatsächliche Durchführung – also die gelebte Praxis – ankomme. Hierbei spiele auch die betriebsverfassungsrechtliche Praxis eine Rolle. Das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. und das Landesarbeitsgericht Hessen hatten vorinstanzlich noch ausgeführt, dass etwaige betriebsverfassungsrechtliche Fehler der Annahme eines Gemeinschaftsbetriebes nicht entgegenstünden. Das BAG setzte jedoch genau an diesem Punkt an: So stelle der Umstand, dass in einem Gemeinschaftsbetrieb mehrere Betriebsräte existierten, die Einheitlichkeit der personellen Leitung und damit das Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebs insgesamt infrage. Die betriebsverfassungsrechtliche Trennung auf zwei Gremien könne einen wesentlichen Hinweis darauf geben, dass die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer lediglich in formaler Hinsicht einer einheitlichen Leitung unterlägen, tatsächlich aber weiterhin unter Berücksichtigung der jeweiligen Unternehmenszugehörigkeit eingesetzt werden.

Dieses Argument wirkt nur auf den ersten Blick so, als hätte das BAG das Pferd von hinten aufgezäumt. Denn im Ausgangspunkt gibt die Betriebsstruktur vor, wie Betriebsräte zu wählen sind und nicht die Wahl der Betriebsräte die Betriebsstruktur. Hintergrund für die Richtigkeit der Entscheidung dürfte aber Folgendes sein, auch wenn dies aus den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich hervorgeht:

  • Die vorliegende Trennung des Gemeinschaftsbetriebs auf betriebsverfassungsrechtlicher Ebene beruhte nicht auf einem bloßen Fehler, wie es die Vorinstanzen formuliert hatten. Sie wurde vielmehr von den Parteien bewusst herbeigeführt, damit die jeweiligen Vertragsarbeitgeber weiterhin „ihren“ Betriebsrat als Ansprechpartner beibehalten konnten. Durch einen dahingehenden Strukturtarifvertrag im Sinne des § 3 BetrVG sollten nämlich bewusst dahingehende fiktive Betriebsstrukturen errichtet werden.
  • Das ist grundsätzlich auch möglich. So können nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG durch Tarifverträge andere Arbeitnehmervertretungsstrukturen bestimmt werden, soweit – und das ist entscheidend – dies insbesondere aufgrund der Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernorganisation oder aufgrund anderer Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer dient. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es jedoch nicht, den Tarifvertragsparteien die gesetzlichen Arbeitnehmervertretungsstrukturen zur freien Disposition zu stellen. Vielmehr geht es darum, in besonderen Konstellationen, in denen sich die im BetrVG vorgesehene Organisation für eine wirksame und zweckmäßige Interessenvertretung der Arbeitnehmer als nicht ausreichend erweist, die Möglichkeit zu eröffnen, in einem Tarifvertrag durch eine Änderung der Strukturen der Arbeitnehmervertretung für Abhilfe zu sorgen (vgl. BAG, Beschl. v. 13.3.2013­ 7 ABR 70/11).
  • Dass diese Voraussetzungen im entschiedenen Fall vorlagen, ist nur sehr schwer vorstellbar. Inwiefern in einem Gemeinschaftsbetrieb (!) ein gemeinsamer Betriebsrat keine wirksame und zweckmäßige Interessenvertretung ermöglicht und das Ausblenden des anderen Entscheidungsträgers im Gemeinschaftsbetrieb eine bessere Repräsentation der Arbeitnehmer bedeuten soll, ist kaum nachvollziehbar.

Das BAG ging daher wohl unausgesprochen davon aus, dass es den Arbeitgebern im zu entscheidenden Fall allein darauf ankam, durch die Errichtung eines Gemeinschaftsbetriebs die Vorgaben des AÜG zu umgehen, dabei aber – zumindest auf betriebsverfassungsrechtlicher Ebene – möglichst wenige Veränderungen vornehmen zu müssen.

Die Entscheidung ist vor diesem Hintergrund im Ergebnis überzeugend. Die Aufteilung der betrieblichen Mitbestimmung auf zwei Betriebsräte ist nach Auffassung des BAG jedoch kein Ausschlusskriterium für das Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebs. Es sei – so das BAG – nicht ausgeschlossen, dass trotz betriebsverfassungsrechtlicher Trennung im Wesentlichen einheitliche Regelungen bestünden, die zwar von verschiedenen Partnern verhandelt und vereinbart wurden, aber inhaltlich weitgehend übereinstimmten oder zumindest aufeinander abgestimmt seien. In einem solchen Fall wären die betrieblichen Abläufe nicht nach Belegschaftsgruppen zu organisieren. Ob eine solche Uniformität in der Praxis bei mehreren Akteuren zu erreichen ist, scheint allerdings fraglich. In der Regel werden bewusst getrennte Betriebsräte daher eher gegen einen Gemeinschaftsbetrieb sprechen.

Auswirkungen auf die Praxis

Der Gemeinschaftsbetrieb bleibt weiterhin eine Option, um Arbeitnehmerüberlassung zu vermeiden. Er muss allerdings auch gelebt werden. Der „Schein“-Gemeinschaftsbetrieb ist keine Gestaltungsoption. Hierzu nimmt das BAG nun auch die betriebsverfassungsrechtliche Praxis in den Blick. Dem Abschluss von Strukturtarifverträgen, um die bisherigen Betriebsstrukturen einzufrieren und die jeweiligen Betriebsräte der Vertragsarbeitgeber im Amt zu belassen, hat das BAG den Riegel vorgeschoben. Aber auch Arbeitgeber, die sich zu einem Gemeinschaftsbetrieb zusammengeschlossen haben und aus „Bequemlichkeit“ ihren Betriebsrat oder ihre Betriebsvereinbarungen nicht angetastet haben, sollten diese Entscheidung zum Anlass nehmen, diese Praxis zu überprüfen. Dabei ist insbesondere von Bedeutung,

  • ob und wie die konkrete Dienstplanung einheitlich arbeitgeberübergreifend erfolgt,
  • ob und wer unter Beachtung welchen Verfahrens über den Beginn und das Ende sowie die kurzfristige Verlängerung oder Verkürzung der täglichen Arbeitszeit entscheidet,
  • in wessen Entscheidung die Planung und die Gewährung von Urlaub gestellt ist,
  • wem welche Entscheidungsbefugnisse bezüglich der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen zustehen und
  • wie die betriebliche Lohngestaltung unter Einschluss leistungsbezogener Entgelte geregelt ist.

Ergeben sich hier unterschiedliche Vereinbarungen im Gemeinschaftsbetrieb, sollte versucht werden, diese zu vereinheitlichen bzw. es sollte die sachliche Notwendigkeit für eine Fortführung dokumentiert werden. Anderenfalls laufen Unternehmen Gefahr, dass gekündigte oder unzufriedene Arbeitnehmer sich darauf berufen, dass der Gemeinschaftsbetrieb nur auf dem Papier besteht und in Wirklichkeit die Vorschriften des AÜG anwendbar sind. Die verdeckte oder illegale (ohne Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis durchgeführte) Arbeitnehmerüberlassung führt in der Regel dazu, dass ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem anderen Teil des vermeintlichen Gemeinschaftsbetriebs fingiert wird und dementsprechend unter anderem Nachzahlungspflichten von Sozialversicherungsbeträgen sowie Vergütungsansprüche für die Vergangenheit in beträchtlicher Höhe bestehen können (mit Blick auf Equal Pay/Equal Treatment). Auch strafrechtliche Rechtsfolgen wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen gem. § 266a StGB dürfen in der Praxis nicht unterschätzt werden.