„Zeiterfassungsentscheidung“ des Bundesarbeitsgerichts
Nach dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) vom 13. September 2022 (Az. 1 ABR 22/21), haben Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG dafür Sorge zu tragen, dass Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer vollständig erfasst werden. Die Aufzeichnungspflicht bezieht sich danach nicht nur auf die über die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit im Sinne des § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG, sondern auf die gesamte geleistete Arbeitszeit. Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:
Müssen Unternehmen ein System zur Arbeitszeiterfassung einführen?
Ja. Unternehmen sind als Arbeitgeber verpflichtet, ein System zur Zeiterfassung einzuführen und sicherzustellen, dass dieses System von den Arbeitnehmern genutzt wird. Es bleibt dem Arbeitgeber jedoch weiterhin möglich, die Aufzeichnung der Arbeitszeiten auf den jeweiligen Arbeitnehmer zu delegieren.
Welche Anforderungen sind an das System zur Arbeitszeiterfassung zu stellen?
Das System zur Arbeitszeiterfassung muss so ausgestaltet sein, dass die Arbeitszeit der Arbeitnehmer „objektiv und verlässlich“ erfasst wird. Es kommen daher nur Systeme in Betracht, die es ermöglichen, den Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit, die Pausenzeiten sowie die Überstunden zu dokumentieren und damit die Dauer der Arbeitszeit zu erfassen. Allerdings hat das BAG klargestellt, dass die Arbeitszeiterfassung nicht zwingend elektronisch erfolgen muss. D.h. die Zeiterfassung muss nicht mittels einer softwarebasierten „digitalen Stechuhr“ erfolgen. Vielmehr kann die Arbeitszeiterfassung auch in Excel-Tabellen oder in Papierform erfolgen.
Ab wann gilt die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung?
Die Pflicht zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung besteht ab sofort. Das BAG begründet die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG als „Generalklausel“ des ArbSchG. Da die Arbeitszeiterfassung Bestandteil des Arbeitsschutzes ist, gibt es keine Übergangsfrist für Unternehmen.
Gilt die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung für sämtliche Arbeitnehmer?
Die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit gilt zunächst für Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 BetrVG. Nicht eindeutig und abschließend hat sich das BAG zur Frage geäußert, ob die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung auch für leitende Angestellte gilt. Den Entscheidungsgründen lassen sich jedoch Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass Arbeitgeber für leitende Angestellte kein System zur Arbeitszeiterfassung einführen müssen. Klarheit muss hier der Gesetzgeber schaffen.
Was bedeutet die Entscheidung für die Vertrauensarbeitszeit?
Dies hängt davon ab, wie Vertrauensarbeitszeit im Unternehmen verstanden wird. Bedeutet Vertrauensarbeitszeit, dass der Arbeitnehmer frei über die Lage seiner Arbeitszeit entscheiden kann, ist auch weiterhin Vertrauensarbeitszeit möglich. Geht die Vertrauensarbeitszeit hingegen damit einher, die Arbeitszeit nicht erfassen zu müssen, ist Vertrauensarbeitszeit jedenfalls für Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 BetrVG nicht mehr möglich.
Welche Rechtsfolgen hat ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung für Unternehmen?
Verstöße gegen § 3 ArbSchG sind nicht unmittelbar bußgeldbewehrt und begründen keine Ordnungswidrigkeit im Sinne von § 25 ArbSchG. Erst wenn die Arbeitsschutzbehörde dem Unternehmen Auflagen zur Arbeitszeiterfassung erteilt und das Unternehmen diesen nicht nachkommt, kann ein Bußgeld festgesetzt werden.
Kann der Betriebsrat mitbestimmen?
Der Betriebsrat hat kein Mitbestimmungsrecht bei der Frage, „Ob“ ein Zeiterfassungssystem eingeführt wird, da bereits kraft Gesetzes eine solche Verpflichtung besteht. Bei der Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems, des „Wie“, hat der Betriebsrat jedoch ein Mitbestimmungsrecht. Die Ausgestaltung und Reichweite richten sich nach den konkreten Erfordernissen des jeweiligen Betriebs und können eine vorgeschaltete Gefährdungsbeurteilung erforderlich machen.
Das Mitbestimmungsrecht erstreckt sich allerdings nur auf Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 BetrVG und nicht auf leitende Angestellte – selbst wenn man aus der Entscheidung des BAG eine generelle Verpflichtung der Zeiterfassung für leitende Angestellte herleiten wollte.
Ausblick
Nun ist der Gesetzgeber am Zug. Er muss die gesetzlichen Anforderungen an die Zeiterfassung konkretisieren. Es bleibt abzuwarten, inwieweit er dabei von den durch das BAG gesehenen Spielräumen, insbesondere in Bezug auf die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche und die Eigenheiten des Unternehmens, Gebrauch machen wird. Bereits kurz nach der Entscheidung des BAG im September teilte Bundesarbeits- und Sozialminister Hubertus Heil mit, die Umsetzung solle „so unbürokratisch wie möglich“ stattfinden. Vor allem mit Blick auf die Möglichkeit zur Vertrauensarbeitszeit wäre dies zu begrüßen.
Praxistipps
Unternehmen sollten im ersten Schritt prüfen, ob es bereits ein System zur Arbeitszeiterfassung gibt und ob dieses geeignet ist, Arbeitszeit objektiv und verlässlich im Sinne der BAG-Entscheidung zu erfassen. Sofern dies nicht der Fall ist, sollten – ggf. unter Beteiligung des zuständigen Betriebsrats – künftige Lösungen zur Zeiterfassung bereits geprüft werden, auch wenn sich durch die zu erwartende, gesetzliche Regelung noch Änderungen ergeben könnten.