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Später Etappensieg von Claudia Pechstein

Ziel eines umfassenden Schadenersatzes nach erfolgreicher Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Sicht

14.07.2022

Mit Beschluss vom 03.06.2022 (Az. 1 BvR 2103/16), veröffentlicht am 12.07.2022, hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts („BVerfG“) einer Verfassungsbeschwerde der professionellen Eisschnellläuferin Claudia Pechstein wegen Verletzung ihres Justizgewährungsanspruchs stattgegeben. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde von Claudia Pechsteins war ein Urteil des Bundesgerichtshofs („BGH“) aus dem Jahr 2016, mit welchem der Kartellsenat des BGH ihre Kartellschadensersatzklage als unzulässig abgewiesen hatte.

Die prozessuale Vorgeschichte

Ausgangspunkt des Verfahrens war die Dopingsperre von Claudia Pechstein, die sie vor über 13 Jahren wegen einer problematischen Erhöhung bestimmter Blutwerte von der Disziplinarkommission des zuständigen internationalen Eisschnelllaufverbandes (International Skating Union, „ISU“) sowie der Deutschen Eisschnelllauf- und Shorttrack-Gemeinschaft e.V. erhalten hatte. Zwar konnte Claudia Pechstein die Blutwerte mit einer vererbten Anomalie erklären und sich so einigermaßen schnell rehabilitieren. Ihr Ziel, von den verantwortlichen Sportverbänden für ihre rechtswidrige Sperre finanziell entschädigt zu werden, konnte sie dagegen bis heute nicht vollständig erreichen.

Ihr Weg durch verschiedene Instanzen war in dieser Hinsicht bislang überwiegend erfolglos. So rief Claudia Pechstein zunächst den internationalen Sportgerichtshof Court of Arbitration for Sport („CAS“) mit Sitz in Lausanne an, um gegen die Disziplinarentscheidung der Eisschnelllaufverbände vorzugehen. Um als professionelle Athletin an Wettkämpfen der ISU teilnehmen zu können, hatte Claudia Pechstein bereits zuvor die Regularien des internationalen Sportfachverbandes anerkennen und insbesondere eine Schiedsvereinbarung zugunsten des CAS unterzeichnen müssen.

Weder ihre Berufung zum CAS noch die sich anschließende Revision zum Schweizer Bundesgericht hatten allerdings Erfolg. Claudia Pechstein verklagte deshalb den ISU vor dem Landgericht München  auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Dopingsperre sowie Schadensersatz und Schmerzensgeld in Millionenhöhe. Das Landgericht wies die Klage ab, doch das Oberlandesgericht gab der eingelegten Berufung statt und stellte in Gestalt eines vielbeachteten Teilurteils fest, dass Claudia Pechsteins Klage vor einem staatlichen Gericht zumindest zulässig sei.

Dies war nur möglich, weil der Senat in der zugrundeliegenden Schiedsvereinbarung zugunsten des CAS aufgrund eines vermeintlichen strukturellen Übergewichts der Sportverbände bei der Besetzung des CAS unter anderem einen Verstoß gegen das kartellrechtliche Missbrauchsverbot sah und ihre Nichtigkeit feststellte. Im Falle einer wirksamen Schiedsvereinbarung wären die beklagten Eisschnelllaufverbände mit ihrer Einrede der Schiedsvereinbarung gemäß § 1031 Abs. 1 ZPO hingegen erfolgreich und Claudia Pechstein der Weg zu den staatlichen Gerichten versperrt gewesen. Der BGH erklärte die Schiedsvereinbarung in seinem Urteil aus dem Jahr 2016 jedoch für wirksam: Nach Ansicht des BGH sei der CAS ein „echtes“ Schiedsgericht im Sinne der ZPO und die Verfahrensordnung des CAS enthalte ausreichende Garantien zur Wahrung der Rechte der Athleten, obwohl sie in der damaligen Fassung keine öffentliche Verhandlung vorsah.

Claudia Pechstein hatte bereits im Anschluss an die Verfahren in der Schweiz eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte („EGMR“) eingelegt. Aber auch dort scheiterte Claudia Pechstein überwiegend mit der Argumentation, dass eine Schiedsvereinbarung zugunsten des CAS ihr Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK verletze. Mit seinem Urteil vom 02.10.2018 (Nr. 40575/10 und 67474/10) folgte der EGMR allerdings insofern der Argumentation von Claudia Pechstein, als er – anders als der BGH – ausführte, dass es sich um eine unfreiwillige, fremdbestimmte Schiedsgerichtsbarkeit handle. Dies führte zu der Konsequenz, dass ein zwingendes Schiedsverfahren sämtliche Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK einhalten müsse, wozu auch die Öffentlichkeit des Verfahrens gehöre. Mangels öffentlicher Verhandlung bejahte der EGMR zumindest in dieser Hinsicht eine Verletzung von Claudia Pechsteins Recht auf ein faires Verfahrens aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und sprach ihr Schadensersatz in Höhe von EUR 8.000 zu.

Der Beschluss des BVerfG vom 03.06.2022

Der Beschluss des BVerfG vom 03.06.2022 bestätigt nun ausdrücklich die bereits vom EGMR eingeschlagene Linie, dass jedenfalls die damals noch fehlende Option für eine öffentliche Verhandlung vor dem CAS in einem solchen Sportdisziplinarverfahren eine Verletzung von fundamentalen Justizgrundrechten begründen kann. Nach Ansicht des BVerfG verletzt das Urteil des BGH Claudia Pechstein insofern in ihrem Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG stehen nicht hinter denen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zurück. Der BGH habe im Rahmen der vorgenommenen Abwägung der kollidierenden Verbandsautonomie der Sportverbände und der Vertragsfreiheit und dem Justizgewährungsanspruch der Betroffenen die mangelnde Möglichkeit einer öffentlichen Verhandlung nicht ausreichend berücksichtigt. Gleichwohl stellt das BVerfG die generelle Zulässigkeit und Berechtigung einer privaten Schiedsgerichtsbarkeit nicht in Frage, sei diese doch in der Vertragsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG verankert. Der Staat müsse aber Sorge dafür tragen, dass schiedsgerichtliche Verfahren den Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz und rechtsstaatlichen Mindeststandards genügten.

Ausblick

Dank des Beschlusses des BVerfG kann Claudia Pechstein somit doch noch auf Schadenersatz hoffen. Das BVerfG hat den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen, das die Maßstäbe des BVerfG bei seiner Entscheidung beachten muss.

Es bleibt allerdings abzuwarten, ob der Nachweis der Kausalität der rechtswidrigen Dopingsperre für die von ihr geltend gemachten Schadensposten sowie das eingeklagte Schmerzensgeld gelingt. Die von Claudia Pechstein geltend gemachten materiellen Schadensposten summieren sich auf knapp EUR 4,0 Millionen und dürften zwischen den Parteien noch für Diskussionen sorgen.

Der Nachweis der Schadenskausalität ist bei sportrechtlichen Auseinandersetzungen allgemein nicht einfach, erfordert die notwendige Bewertung eines hypothetischen Kausalverlaufs doch in der Regel die Prognose, ob der betroffene Athlet ohne die Sperre im Falle ausreichenden sportlichen Erfolgs insbesondere geltend gemachte Sponsorengelder, Antritts- und Preisgelder sowie finanzielle staatliche Unterstützung als Spitzenathlet im Olympiakader der deutschen Nationalmannschaft erhalten hätte. Aktueller Beleg dafür ist das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 28.04.2022 (Az. 11 U 169/20), in dem es um eine Schadensersatzklage zweier Profi-Volleyballerinnen wegen entgangener Preisgelder aufgrund der angeblichen Rechtswidrigkeit der Nominierungsrichtlinien des deutschen Volleyballverbands ging (siehe dazu Michael Kintrup / Björn Hessert: Nominierungsentscheidungen im Sport: Nur eine Frage des Ermessens?, in: SpuRt 2022, 228 ff.).

Unabhängig von dem Ausgang des konkreten Rechtsstreits bietet der Beschluss versteckt am Ende der Begründung Raum für weitere Diskussionen: Das BVerfG lässt u.a. letzten Endes offen, ob neben der fehlenden Öffentlichkeit auch ein mögliches Übergewicht der Verbände bei der Besetzung des Schiedsgerichts zu einem Verstoß gegen den Justizgewährleistungsanspruch führen könnte. Auch die allgemeinere Frage danach, ob der CAS angesichts seiner Abhängigkeit von Sportverbänden als unabhängige Schiedsinstitution gelten kann, musste das BVerfG nicht diskutieren.

Das BVerfG hält immerhin fest, dass der deutsche Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG über die Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK hinausgehen kann. Das BVerfG vermeidet damit einen ausdrücklichen Widerspruch zum EGMR, der dem CAS bescheinigte, die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit Ausnahme eines öffentlichen Verfahrens zu erfüllen. Gleichzeitig lässt sich aber das BVerfG insofern die Möglichkeit offen, im Falle eines erneuten Verfahrens nochmals dazu Stellung zu beziehen, ob als Schiedsgerichte benannte Spruchkörper den Anforderungen des Justizgewährungsanspruchs genügen.

Die Erwägungen des BVerfG beziehen sich dabei ausschließlich auf Schiedsverfahren, die auf der Grundlage von Schiedsvereinbarungen durchgeführt werden, die eine Partei ohne echte Wahlfreiheit hat unterzeichnen müssen. Die Erwägungen des BVerfG gelten mithin nicht für reguläre Handelsschiedsverfahren, die Parteien frei und unabhängig von irgendwelchen Bedingungen vereinbaren.

Der CAS zumindest hat seine Schiedsordnung mittlerweile um die Option eines öffentlichen Verfahrens angereichert. Grundsätzlich sind die Verfahren vor dem CAS auch nach einer Reform der Schiedsordnung des CAS nicht öffentlich - es sei denn, die Parteien einigen sich auf die Öffentlichkeit. In Disziplinarverfahren kann eine Partei die Öffentlichkeit anregen. Dies kann jedoch weiterhin aus Gründen wie dem „Interesse der Moral“ abgelehnt werden. Auch in dieser Hinsicht könnte in Zukunft eine weitere Überprüfung von Seiten der Athleten und weiteren Akteuren erfolgen. Dies betrifft insbesondere auch bereits bestehende Schiedsvereinbarungen und gegebenenfalls sogar bereits auf entsprechender Grundlage ergangene Entscheidungen. In Bezug auf letztere stellt sich u.U. noch die interessante Teilfrage, ob die Betroffenen seinerzeit einen Antrag auf Durchführung eines öffentlichen Verfahrens gestellt hatten und ob dies bei der Beurteilung ex post einen Unterschied macht. Die Verfahrensordnung des CAS bleibt aber auch in anderer Hinsicht weiterhin Gegenstand von Diskussionen, insbesondere mit Blick auf die Prozesskostenhilfe, die effektiven Rechtsschutz ermöglichen soll (vgl. Schweizer Bundesgerichts vom 22.09.2021, Az. 4A_166/2021).