EuGH: Lauf der Verjährungsfrist von Rechtskenntnis abhängig
Mit Urteil vom 25.01.2024 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) auf Vorlage eines spanischen Gerichts entschieden, dass Erstattungsansprüche von Verbrauchern aufgrund unwirksamer AGB nicht allein wegen der Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen verjähren dürfen, sondern Kenntnis von der rechtlichen Beurteilung der Tatsachen notwendig ist. Dieses Urteil hat auch Auswirkungen auf das deutsche Recht.
I. Hintergrund
Ausgangspunkt des Urteils in den Rs. C-810/21 bis C-813/21 (Caixabank SA u. a.) waren mehrere Vorlagen des Provinzgerichts Barcelona zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Klausel-Richtlinie.
Aufgrund von in den Jahren 2004 und 2006 geschlossenen Hypothekendarlehensverträgen zahlten die Kläger circa drei bis vier Monate nach Vertragsschluss Notar-, Registrierungs- und Verwaltungskosten an die darlehensgebende Bank. Mit Urteil vom 23.12.2015 erklärte der Oberste Gerichtshof Spaniens die den Zahlungen zugrunde liegende Kostenklausel für nichtig. Im Jahr 2017 bzw. 2018, das heißt 11, 13 bzw. fast 14 Jahre nach Zahlung der Kosten, erhoben die Darlehensnehmer Klage auf Rückzahlung der Gebühren (vgl. Zusammenfassung der Vorlagefragen).
Nach dem anwendbaren spanischen bzw. katalonischen Recht gilt eine Verjährungsfrist von 10 Jahren. Die Verjährungsfrist beginnt – ähnlich wie bei § 199 Abs. 1 BGB – zu laufen, „wenn der Anspruch entstanden und fällig ist und der Anspruchsinhaber die Umstände, auf denen er beruht, und die Person, gegen die er geltend gemacht werden kann, kennt oder vernünftigerweise kennen kann.“
II. Vorlagefragen
Das Vorlagegericht hatte Zweifel, ob der Effektivitätsgrundsatz im Lichte der Klausel-Richtlinie Tatsachenkenntnis für den Beginn der Verjährung ausreichen lässt. Aus diesem Grund legte es dem EuGH sinngemäß unter anderem die Fragen vor, ob
- die für den Verjährungsbeginn notwendige Kenntnis des Verbrauchers auch die rechtliche Würdigung dieser Tatsachen umfassen muss,
- und (ii) bejahendenfalls, ob der Fristbeginn bis zu einer gefestigten Rechtsprechung zur Nichtigkeit der Klausel hinausgeschoben sein muss.
III. Entscheidung des EuGH
Kenntnis der rechtlichen Beurteilung der anspruchsbegründenden Tatsachen erforderlich
Was den Beginn einer Verjährungsfrist betrifft, hat der EuGH entschieden, dass eine Verjährungsfrist nur dann mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist, wenn die Verbraucher nicht nur die anspruchsbegründenden Tatsachen kennen, sondern auch deren rechtliche Würdigung. Denn andernfalls könne nicht davon ausgegangen werden, dass Verbraucher die Möglichkeit hatten, von ihren Rechten Kenntnis zu nehmen (Rn. 48–55).
Gefestigte Rechtsprechung allein ist zum Nachweis der Kenntnis nicht ausreichend
Hinsichtlich der Frage, welche Informationen dem Durchschnittsverbraucher zur Verfügung stehen müssen, um die Kenntnis von der rechtlichen Bewertung bejahen zu können, hat der EuGH maßgeblich auf die Informationsasymmetrie zwischen Verbraucher und Klauselverwender abgestellt. Da vom Verbraucher nicht erwartet werden könne, die Rechtsprechung zu verfolgen, könne diese auch nicht entscheidend für den Beginn der Verjährungsfrist sein (Rn. 56–61). Als sprichwörtlicher Wink mit dem Zaunpfahl liest sich hier der Verweis auf die Rs. CAJASUR Banco (C-35/22), wo der EuGH dem Klauselverwender zumutet, seine Kunden von der Unwirksamkeit der Vertragsbestimmung zu informieren (Rn. 58).
IV. Bewertung und Folgen für die Praxis
Für die Praxis stellt sich die Frage, ob das deutsche Verjährungsrecht im Anwendungsbereich der Klausel-Richtlinie über den Wortlaut von § 199 BGB hinaus auszulegen und die Kenntnis des Verbrauchers von der rechtlichen Bewertung anspruchsbegründender Tatsachen zu verlangen ist.
Dagegen spricht, dass der Bundesgerichtshof eine richtlinienkonforme Auslegung zunehmend nur noch in sehr engen Grenzen für möglich hält und zuletzt häufiger abgelehnt hat (so etwa BGH, 03.11.2022, VII ZR 724/21; BGH, 04.07.2023, XI ZR 77/22). Voraussetzung für eine solche Auslegung ist, dass eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspricht. Einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm darf also kein entgegengesetzter Sinn gegeben und der normative Gehalt der Norm auch nicht grundlegend neu bestimmt werden (BGH, 03.11.2022, VII ZR 724/21 Rn. 42; BGH, 04.07.2023, XI ZR 77/22, Rn. 25). Das wäre vorliegend aber wohl der Fall. Denn der Gesetzgeber knüpft in § 199 Abs. 1 BGB bewusst allein an die Tatsachenkenntnis an (vgl. BT-Drs. 14/6040, S. 102). Er betont zudem die Notwendigkeit, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu schaffen (vgl. BT-Drs. 14/6040, S. 100). Eine regelhafte Anknüpfung an eine Rechtskenntnis, wie sie dem EuGH vorschwebt, wäre mit diesem Regelungskonzept nicht vereinbar und würde § 199 BGB in sein Gegenteil verkehren.
Vor diesem Hintergrund stellt sich für den Gesetzgeber die Frage, ob er eine Novellierung der Klausel-Richtlinie anstößt, um eine Abschaffung des deutschen Regelungskonzepts durch die EuGH-Judikatur zu verhindern. Angesichts der politischen Herausforderungen eines solchen Unterfangens dürfte es realistischer sein, dass die deutschen Verjährungsvorschriften mittelfristig überarbeitet werden und dabei das Interesse des Klauselverwenders an Rechtsfrieden und Rechtssicherheit deutlich in den Hintergrund rückt. Das gilt erst recht, wenn man die Andeutungen des EuGH so versteht, dass der Lauf der Verjährungsfrist davon abhängt, dass der Klauselverwender seine Kunden informiert.