Update: Neue Sammelklage – Bundestag beschließt Abhilfeklage
Am 07.07.2023 hat der Deutsche Bundestag das Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz (VRUG) verabschiedet und damit die bereits seit langem überfällige Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie 2020/1828 auf den Weg gebracht. Aufgrund der notwendigen Beteiligung des Bundesrates wird das Gesetz frühestens im September in Kraft treten.
Kernstück des neuen Gesetzes bleibt die Einführung einer kollektiven Leistungsklage (Abhilfeklage), die neben die Musterfeststellungsklage tritt. Die nun verabschiedete Fassung des VRUG weicht aufgrund der vom Rechtsausschuss vorgeschlagenen Änderungen (BT-Drs. 20/7631) in zentralen Punkten vom Referentenentwurf und vom Regierungsentwurf (BT-Drs. 20/6520) ab, zu denen wir bereits am 16.02.2023 und 31.03.2023 berichtet hatten.
Anwendungsbereich
Gegenstand der Abhilfeklage sind alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, die Ansprüche und Rechtsverhältnisse einer Vielzahl von Verbrauchern gegen ein Unternehmen betreffen (§ 1 Abs. 1 VDuG). Der Anwendungsbereich ist damit deutlich weiter als von der Richtlinie verlangt und erstreckt sich nicht nur auf Verbraucherschutzvorschriften, sondern beispielsweise auch auf das allgemeine Deliktsrecht. In Deutschland könnte die Abhilfeklage insbesondere bei datenschutzrechtlichen Schadensersatzansprüchen, Produkthaftungsfällen, Kartellschadensersatzansprüchen, Kapitalanlagefällen und der Durchsetzung des Digital Markets Act Bedeutung erlangen.
Unternehmen mit weniger als 10 Beschäftigten und einem Jahresumsatz oder einer Jahresbilanz von nicht mehr als EUR 2 Millionen („kleine Unternehmen“) werden Verbrauchern gleichgestellt und können sich Verbandsklagen künftig ebenfalls anschließen (§ 1 Abs. 2 VDuG). Auch insoweit wird die Richtlinie überschießend umgesetzt. Es sind jedoch weniger Unternehmen erfasst, als zunächst im Regierungsentwurf vorgesehen.
Klagebefugnis
Klagebefugt sind nicht die Verbraucher selbst, sondern qualifizierte (inländische) Verbraucherverbände, die in der Liste nach § 4 des UKlaG eingetragen sind und nicht mehr als 5 Prozent ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 VDuG). Die Mindesteintragungsdauer von einem Jahr lässt erwarten, dass sich Verbände auch anlassbezogen (ad hoc) gründen, um Klagen zu erheben. Zudem können Verbände aus anderen EU-Mitgliedstaaten in Deutschland klagen (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 VDuG). Die gesenkten Anforderungen an die Klagebefugnis machen Verbandsklagen in der Zukunft wahrscheinlicher.
Attraktiv sind Verbandsklagen auch deshalb, weil die Kostenrisiken für klagebefugte Verbände überschaubar sind – der Streitwert wird ungeachtet der tatsächlichen wirtschaftlichen Bedeutung des Falles bei EUR 300.000 (Abhilfeklage) bzw. EUR 250.000 (Musterfeststellungsklage) gedeckelt.
Bündelung von gleichartigen Ansprüchen
Im Vergleich zum Regierungsentwurf sind die Anforderungen an die Gleichartigkeit der von der Abhilfeklage betroffenen Ansprüche deutlich gesenkt worden. Die betroffenen Ansprüche müssen nur noch „im Wesentlichen gleichartig“ sein (§ 15 Abs. 1 Satz 1 VDuG). Das ist der Fall, wenn die Ansprüche auf demselben Sachverhalt oder auf einer Reihe im Wesentlichen vergleichbarer Sachverhalte beruhen und für die Ansprüche die im Wesentlichen gleichen Tatsachen- und Rechtsfragen entscheidungserheblich sind (§ 15 Abs. 1 Satz 2 VDuG). Durch die weite Formulierung wird den Gerichten deutlich mehr Flexibilität in der Handhabung von Abhilfeklagen geben. Die Frage der Gleichartigkeit wird künftig ein zentraler Streitpunkt einer Abhilfeklage sein.
Verbraucherquorum: Ansprüche von mindestens 50 Verbrauchern
Anders als noch im Regierungsentwurf vorgesehen, muss der Kläger nicht mehr glaubhaft machen, dass von der Abhilfeklage Ansprüche von mindestens 50 Verbrauchern betroffen sind. Notwendig ist nur noch, dass der Kläger die Betroffenheit „nachvollziehbar darlegt“ (§ 4 Abs. 1 VDuG).
Ablauf der neuen Abhilfeklage
Die neue Abhilfeklage, die im Gerichtsstand der Beklagten beim Oberlandesgericht zu erheben ist, kennt drei Modelle:
Im ersten Modell kennt der Verband die betroffenen Verbraucher namentlich und begehrt Leistung direkt an die Verbraucher (§ 16 Abs. 1 Satz 2 VDuG). Im Erfolgsfall wird das Unternehmen zur Zahlung direkt an die Verbraucher verurteilt. Dieses Modell wird in der Praxis voraussichtlich keine große Rolle spielen, weil ein Verband die betroffenen Verbraucher in der Regel nicht kennt.
Das zweite Modell wird voraussichtlich das meistgenutzte Modell sein. Hier verlangt der Verband Leistung an namentlich nicht genannte Verbraucher, die lediglich anhand von gemeinsamen Gruppenmerkmalen identifiziert werden (§ 16 Abs. 1 Satz 2 VDuG). Die wesentlichen Verfahrensschritte umfassen das gerichtliche Abhilfeverfahren (Abhilfegrundurteil, Vergleichsphase und Abhilfeendurteil), das Umsetzungsverfahren mit einer optionalen gerichtlichen Kontrolle der Sachwalterentscheidung sowie gerichtliche Anschlussverfahren:
In dem dritten Modell können die Parteien das zweite Modell abwandeln und beantragen, dass direkt ein Urteil ergeht, in dem Abhilfegrundurteil und Abhilfeendurteil zusammengefasst werden (§ 16 Abs. 4 VDuG).
In Modell 2 und Modell 3 können Verbraucher und Unternehmer die Entscheidung des Sachwalters über einen Widerspruch nunmehr in engen Grenzen vom zuständigen Oberlandesgericht überprüfen lassen (§ 28 Abs. 4 VDuG). Hierdurch droht das ohnehin schon komplizierte und langwierige Verfahren noch länger und teurer zu werden.
Verbrauchermandat: spätes Opt-in
Die Verbraucher müssen sich der Verbandsklage aktiv durch eine Anmeldung zur Eintragung im Verbandsklageregister beim Bundesamt für Justiz anschließen. Der Zeitpunkt, bis zu dem eine Anmeldung möglich ist, wurde im Gesetzgebungsverfahren mehrfach geändert. Eine Anmeldung ist nunmehr bis zum Ablauf von drei Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung möglich (§ 46 Abs. 1 Satz 1 VDuG). Da ein Urteil frühestens sechs Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung ergehen darf (§ 13 Abs. 4 VDuG), müssen Verbraucher sich stets vor einem Urteil anmelden.
Das späte Opt-in wird es für Unternehmen regelmäßig sehr schwierig machen, vor einem Urteil sinnvolle Vergleichsverhandlungen zu führen, weil keine Gewissheit darüber besteht, welche und wie viele Personen sich der Klage angeschlossen haben.
Strenge Vorschriften für Prozessfinanzierung
Eine Prozessfinanzierung ist grundsätzlich zulässig. Die Anforderungen wurden im Vergleich zum Referenten- und Regierungsentwurf präzisiert und verschärft.
Wird dem Prozessfinanzierer ein wirtschaftlicher Anteil an der vom verklagten Unternehmer zu erbringenden Leistung von mehr als 10 Prozent versprochen, ist die Klage unzulässig (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 VDuG). Der Verband muss offenlegen, woher die Mittel für die Finanzierung der Klage stammen und die Finanzierungsvereinbarung vorlegen (§ 4 Abs. 3 VDuG). In der Gesetzesbegründung wird klargestellt, dass selbst im Falle einer Erfolgsbeteiligung des Finanzierers die Leistung stets an den Verbraucher zu erbringen ist, der dann seinerseits an den Finanzierer zahlt.
Prozessfinanzierte Gewinnabschöpfungsklage
Bei prozessfinanzierten Gewinnabschöpfungsklagen nach § 10 UWG gibt es keine summenmäßige Grenze für die Erfolgsbeteiligung. Erforderlich ist aber, dass das Bundesamt für Justiz die Finanzierungsbedingungen vor Einleitung des gerichtlichen Verfahrens bewilligt (§ 10 Abs. 6 UWG). Weitere Neuerungen bestehen darin, dass künftig nicht zur vorsätzliche, sondern auch grob fahrlässige UWG-Verstöße ausreichen (§ 10 Abs. 1 UWG) und der Streitwert bei EUR 410.000 gedeckelt ist. Damit dürfte die Gewinnabschöpfungsklage künftig – anders als wohl die Abhilfeklage – ein interessantes kollektivrechtliches Investitionsobjekt sein.
Verjährungshemmung
Die Erhebung der Abhilfeklage hemmt die Verjährung nur für Ansprüche von angemeldeten Verbrauchern und Kleinunternehmen (§ 204a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 VDuG). Die verjährungshemmende Wirkung ist damit deutlich enger gefasst als bei einer Unterlassungsklage nach dem UKlaG, bei der eine Anmeldung von Verbrauchern nicht notwendig ist, und die die Verjährung sämtlicher von der Zuwiderhandlung betroffenen Verbraucheransprüche hemmt (§ 204a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VDuG). Zu beachten ist dabei, dass die Verjährungshemmung bei Abhilfe- und Unterlassungsklage nicht für Altfälle gilt (Art. 9 VRUG). Da die Erhebung einer Musterfeststellungsklage die Verjährung auch in Altfällen hemmt, ist naheliegend, dass Verbände zumindest bei Altfällen allein oder zusätzlich zur Abhilfeklage auf eine Musterfeststellungsklage zurückgreifen werden.
Nächste Schritte: Beteiligung des Bundesrates
Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss der Bundesrat beteiligt werden (eine Zustimmungspflicht besteht nicht). Das wird frühestens im September der Fall sein. Ebenso wie zahlreiche andere Mitgliedstaaten wird Deutschland die Frist zur Umsetzung der Richtlinie (25.06.2023) damit deutlich reißen.
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