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Stellungnahme der Europäische Kommission zum FRAND-Einwand in Sachen HMD ./. VoiceAge – Vorab­entscheidung des EuGH in Sichtweite?

26.08.2024

In einer jüngst veröffentlichten amicus curiae-Stellungnahme („Stellungnahme“) in dem Verfahren HMD Global Oy („HMD“) ./. VoiceAge EVS GmbH & Co. KG („VoiceAge“) vor dem Oberlandesgericht München, Az. 6 U 5066/22 Kart, konkretisiert die Europäische Kommission („Kommission“) die Kriterien zur Anwendung des kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwands („FRAND-Einwand“) nach Art. 102 AEUV. Die Kommission interpretiert die hierzu vom Europäischen Gerichtshof („EuGH“) entwickelten Maßstäbe (vgl. EuGH, Urteil vom 16.07.2015, Az. C-170/13 in Sachen Huawei ./. ZTE) deutlich abweichend von der Anwendungspraxis der deutschen Gerichte.

Insbesondere spricht sich die Kommission für eine strikte Schritt-für-Schritt-Prüfung der durch den EuGH vorgegebenen Prüfungsschritte aus. Damit wendet sich die Kommission gegen die bisherige Praxis der deutschen Rechtsprechung. Insbesondere für eine Vermengung verschiedener Prüfungsschritte und diffuse Kriterien wie eine von diesen Prüfschritten losgelöste Prüfung der „Lizenzwilligkeit“ des Patentnutzers (dahingehend der Bundesgerichtshof in seinen Entscheidungen vom 05.05.2020 und 24.11.2020, Az. KZR 36/17 in Sachen Sisvel ./. Haier) bleibt nach Auffassung der Kommission kein Raum.

Die auf eigene Initiative abgegebene Stellungnahme der Kommission erfolgte auf Grundlage der VO (EG) 1/2003, die die Durchführung des europäischen Kartellrechts regelt. Sie erlaubt es der Kommission zur einheitlichen Anwendung des europäischen Kartellrechts von sich aus entsprechende Stellungnahmen bei mitgliedstaatlichen Gerichten abzugeben. Die Ausübung dieser Ermächtigung ist aber äußerst selten – nach Angaben der Kommission handelt es sich bei der Stellungnahme im Fall HMD ./. VoiceAge um die erste solche Stellungnahme in der gesamten EU seit 2020. Das zeigt letztlich, dass das Thema Lizenzierung von standardessentiellen Patente („SEP“) derzeit sehr hoch auf der Agenda der Kommission steht (siehe auch unseren News Beitrag zu den Bemühungen der Kommission zum Erlass einer „SEP-Verordnung“).

Im Einzelnen stellt sich der Inhalt der Stellungnahme der Kommission wie folgt dar:

I. Prüfungsfolge des FRAND-Einwands nach dem EuGH

Das Urteil des EuGH vom 16.07.2015, Az. C-170/13 in Sachen Huawei ./. ZTE schuf grundlegende Kriterien für einen erfolgreichen FRAND-Einwand des Patentnutzers bei Streitigkeiten um SEP. Zusammengefasst muss der Patentinhaber in einem ersten Schritt den Patentnutzer auf die Verletzung hinweisen, woraufhin der Patentnutzer in einem zweiten Schritt seine Lizenzbereitschaft zu erklären hat. Auf diese Erklärung muss der Patentinhaber in einem dritten Schritt mit einem Lizenzangebot zu FRAND-Bedingungen an den Patentnutzer erwidern, das der Patentnutzer entweder annehmen oder auf das er in angemessener Zeit mit einem Gegenangebot, Rechnungslegung und Sicherheitsleistung reagieren muss. Sind all diese Schritte ordnungsgemäß vollzogen oder unterlässt der Patentinhaber einen der ihm obliegenden Mitwirkungsakte, steht einem durch den Patentinhaber gestellten Unterlassungsantrag der FRAND-Einwand des Patentnutzers entgegen.

II. Konkretisierung der Kriterien durch die Kommission

Die Kommission betont in ihrer Stellungnahme die verhandlungsfördernde Zielrichtung der durch den EuGH entwickelten Kriterien. Nach Auffassung der Kommission sollen diese Verhandlungen zwingend einem streitigen Verfahren vorangehen, wobei die Kommission zwischen der Stellung eines Unterlassungsantrags und Anträgen auf Auskunft und Schadensersatz unterscheidet. Erstere verschiebt das Verhandlungsgleichgewicht unwiederbringlich zu Lasten des Patentnutzers, weshalb auch eine „Heilung“ verpasster Mitwirkungspflichten nach Stellung des Unterlassungsantrags nicht mehr möglich ist. Letztere sollen sich auf das Verhandlungsgleichgewicht zwischen den Parteien nicht auswirken und daher für den FRAND-Streit keine Rolle spielen.

1. Schritt 1: Verletzungshinweis

Schritt 1 (Verletzungshinweis des Patentinhabers) und Schritt 2 (Lizenzbereitschaftserklärung des Patentnutzers) stellen nach Auffassung der Kommission lediglich den Ausgangspunkt für Verhandlungen dar. Entsprechend sollten sie auch nicht an gewisse Lizenzbedingungen oder Lizenzgebühren gebunden sein. Als zwingend notwendigen Inhalt der Verletzungsanzeige nennt die Kommission:

  • Die Patentverletzung muss ausdrücklich gerügt werden,
  • zudem ist die Patentnummer des/der als verletzt betrachteten Patente anzugeben und
  • auch die Art und Weise der Verletzung ist in dem Schreiben selbst anzugeben.

Diese umfangreiche initiale Darlegungspflicht resultiert der Kommission nach aus der Schlüsselposition des Patentinhabers. Er ist am ehesten dazu in der Lage, konkrete Details zu seinem/seinen Patent/en zur Verfügung zu stellen, um damit die Verhandlungen in Gang zu bringen. Der Verletzungshinweis muss die genannten Informationen auch selbst enthalten. Informationen, die sich etwa auf einer in dem Verletzungshinweis verlinkten Webseite findet, sind nicht Teil des Verletzungshinweises und damit zur Erfüllung dieses Schritts nicht ausreichend.

2. Schritt 2: Lizenzwilligkeitserklärung

Die Lizenzwilligkeitserklärung des Patentnutzers ist laut Kommission ein formeller Schritt, der dem Einstieg in die Lizenzverhandlungen dient. Besondere qualitative Anforderungen stellt die Kommission nicht. Verhandlungen inhaltlicher Natur sind den nachfolgenden Schritten vorbehalten, insbesondere dem Lizenzangebot (Schritt 3) des Patentinhabers und dem Gegenangebot des Patentnutzers (Schritt 4). Eine Vermischung der Anforderungen dieser verschiedenen Schritte – etwa mit der Folge umfangreicherer Pflichten des Patentnutzers nach Schritt 2 – darf nicht erfolgen.

Gibt der Patentnutzer auf einen hinreichenden Verletzungshinweis hin dagegen keine Lizenzwilligkeitserklärung ab und wird daraufhin ein Unterlassungsantrag gestellt, ist nach der Kommission auch die unterlassene Lizenzwilligkeitserklärung nicht mehr durch eine erhöhte Mitwirkung des Patentnutzers an den nachfolgenden Verhandlungen nachholbar. Dem Patentnutzer ist dann der FRAND-Einwand verwehrt.

3. Schritt 3: Lizenzangebot des Patentinhabers

An das Lizenzangebot des Patentinhabers sind laut Kommission die bereits bekannten Anforderungen zu stellen. Insbesondere muss es konkret, schriftlich und unter Angabe der Lizenzgebühr und Art und Weise ihrer Berechnung erfolgen. Ferner verlangt die Kommission, dass das Gericht das Angebot in jedem Fall auf Einhaltung der FRAND-Bedingungen prüfen muss.

Die Kommission stellt darüber hinaus auch klar, dass die weitere Mitwirkungspflicht des Patentnutzers in Form von Schritt 4 (Annahme oder Gegenangebot) durch die Abgabe des Lizenzangebots auch dann eingeleitet wird, wenn das Angebot nicht FRAND-Bedingungen entspricht. Diese Rechtsaufassung entspricht der bisherigen Entscheidungspraxis der deutschen Gerichte.

4. Schritt 4: Reaktion des Patentnutzers, insbesondere Gegenangebot

In Schritt 4 muss der Patentnutzer auf das Angebot des Patentinhabers reagieren. Laut Kommission kann der Patentnutzer dabei das Angebot annehmen oder ein konkretes Gegenangebot zu FRAND-Bedingungen unterbreiten. Lehnt der Patentinhaber das Gegenangebot ab und will der Patentnutzer das SEP weiter nutzen, muss der Patentnutzer zudem eine Sicherheitsleistung erbringen, die im Umfang der Vergütung für vergangene Benutzungshandlungen entspricht. Auch zur Rechnungslegung ist der Patentnutzer dann verpflichtet. Zudem weist die Kommissionen darauf hin, dass die Parteien auch einen Dritten bestimmen können, der eine angemessene Lizenzgebühr festlegen soll.

Vor dem Hintergrund der Prüfpflicht des Gerichts mit Blick auf die FRAND-Konformität der beidseitigen Lizenzangebote stellt sich allerdings die Frage, wie sich ein beiderseitiger Pflichtverstoß (FRAND-widriges Angebot des Patentinhabers und keine FRAND-Reaktion des Patentnutzers auf dieses) auf den FRAND-Einwand auswirkt. Wie diese Situation des beidseitigen Pflichtverstoßes zu lösen ist, bleibt in der Stellungnahme der Kommission offen.

5. Keine Heilung

Die Kommission spricht sich ganz grundsätzlich gegen jegliche Heilung zuvor unterlassener Schritte durch Nachholung nach Stellung eines Unterlassungsantrags aus, da solche Heilungsmöglichkeiten auf beiden Seiten negative Anreize schaffen würden. Auf Seiten des Patentinhabers böten sie insbesondere Anreize zur sofortigen Stellung eines Unterlassungsantrags und auf der Seite des Patentnutzers Anreize zur Erhebung des FRAND-Einwands ohne ausreichenden Beitrag zu einer Verhandlungslösung. Beides würde die Lizenzverhandlungen, die der EuGH mit seiner Entscheidung in Sachen Huawei ./. ZTE befördern wollte, beeinträchtigen, wenn nicht gar verunmöglichen.

III. Auswirkungen

Die Kommission interpretiert die Leitentscheidung des EuGH in Sachen Huawei ./. ZTE an mehreren Stellen abweichend von der Entscheidungspraxis der deutschen Gerichte. Die Stellungnahme liest sich daher in großen Teilen auch als Antithese zur deutschen Praxis. Sie ließe sich auch als Intervention der Kommission gegenüber einer nationalen Praxis verstehen, welche die FRAND-Kriterien des EuGH aus Sicht der Kommission jedenfalls in mehreren, oft entscheidungserheblichen Punkten unzutreffend anwendet. Hierzu zählt insbesondere die relative freie Prüfung der Lizenzwilligkeit der Parteien durch die deutschen Gerichte, die mit einer Aufweichung der durch den EuGH vorgegebenen Prüfungsreihenfolge einhergeht.

Die unterschiedlichen Rechtsaufassungen der Kommission einerseits und vieler deutscher Gerichte andererseits betreffend die Anwendung des FRAND-Einwands nach Art. 102 AEUV rufen förmlich nach einer weiteren Entscheidung des EuGH, die insbesondere im Wege der Vorabentscheidung nach Vorlage (Art. 267 AEUV) erfolgen könnte. Die Kommission regt diesen Schritt in ihrer Stellungnahme entsprechend auch explizit an, sollte das Oberlandesgericht München weitere Unklarheiten bei der Auslegung des Urteils des EuGH in Huawei ./. ZTE sehen.

Vor dem Hintergrund der Wesentlichkeit und Entscheidungserheblichkeit der von der Kommission adressierten Punkte für eine Vielzahl von FRAND-Verfahren ist mit einer baldigen Vorlage durchaus zu rechnen. Naheliegend wäre eine Vorabentscheidung bereits im Verfahren HMD ./. VoiceAge vor dem OLG München. Aber auch andere nationale Gerichte könnten eine solche Vorlage unternehmen oder sich einer entsprechenden Vorlage anschließen. Ferner in Betracht kommt aber auch eine Vorlage entsprechender Vorlagefragen durch eine der Lokalkammern des Einheitlichen Patentgerichts in einem der vor dem UPC bereits anhängigen SEP-Verletzungsverfahren nach Art. 21 EPGÜ. Die Lizenzierung von SEP bleibt damit ein weiterhin heiß umkämpftes Thema.