Ist die Stimmrechtszurechnung des Acting in Concert europarechtswidrig?
Von Dr. Jörg-Peter Kraack
Zuerst veröffentlicht im Noerr Public M&A-Report 01/2025
Aktuelle Vorabentscheidungsvorlage des BGH an den EuGH vom 22.10.2024 – II ZR 193/22 mit erheblicher Tragweite
Einleitung
Die Frage der Europarechtswidrigkeit der Stimmrechtszurechnung des Acting in Concert ist eines der virulentesten Themen der kapitalmarktrechtlichen Beteiligungspublizität. Der BGH hatte jüngst die seltene Gelegenheit, sich mit dem Zurechnungstatbestand des Acting in Concert nach § 34 Abs. 2 WpHG und dabei mit der zentralen Frage zu befassen, ob die Zurechnung wegen Verhaltensabstimmung „in sonstiger Weise“ nach S. 1 Var. 2 (also ohne eine Vereinbarung) europarechtskonform ist. Aufgrund diesbezüglicher Zweifel legte er dem EuGH eine Auslegungsfrage zur Transparenzrichtlinie zur Vorabentscheidung vor (BGH, Vorlagebeschluss vom 22.10.2024 – II ZR 193/22).
Dieser Beschluss hat erhebliche Tragweite für die Praxis der Beteiligungspublizität und damit – aufgrund ihrer Funktion als übernahmerechtlicher Vorfeldtatbestand – auch im Kontext von Übernahmen.
Sachverhalt
Der Rechtsstreit betrifft Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen von drei Aktionären gegen Beschlüsse der Hauptversammlung der beklagten börsennotierten AG im Jahr 2018 über Entlastungen sowie gegen Aufsichtsratswahlen.
In erster Instanz wurden die Klagen abgewiesen und auch die Berufung blieb erfolglos. Nach Ansicht des Berufungsgerichts waren die Kläger wegen des Verstoßes gegen Mitteilungspflichten gemäß den §§ 33, 34 WpHG seit 2017 und des daraus resultierenden Rechtsverlusts nach § 44 Abs. 1 WpHG nicht anfechtungsbefugt. Die Stimmrechte der Kläger und eines weiteren Aktionärs seien nach § 34 Abs. 2 WpHG infolge eines Acting in Concert in den Jahren 2017 bis 2019 wechselseitig zuzurechnen, denn jedenfalls hätten sie ihr Verhalten in sonstiger Weise aufeinander abgestimmt.
Die Kläger seien daher zunächst verpflichtet gewesen, vor der Hauptversammlung 2017 die Überschreitung der 10-%-Schwelle mitzuteilen, weil sie und ein weiterer Aktionär zusammen betrachtet mit mehr als 10 % der Stimmrechte beteiligt waren, und sodann vor der Hauptversammlung 2018 ein Unterschreiten der 10 -%-Schwelle mitzuteilen, da sie zu diesem Zeitpunkt zusammen betrachtet weniger als 10 % der Stimmrechte an der AG hielten. Die Rechtsfolge des Rechtsverlusts umfasst daher neben dem Stimmrecht für die Hauptversammlung 2018 auch die Anfechtungsbefugnis.
Entscheidung und Gründe
Der BGH setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH eine Frage zur Auslegung der Transparenzrichtlinie zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vor. Denn der Rechtsstreit werfe die Frage nach der Vereinbarkeit des Acting in Concert auf Basis einer Abstimmung in sonstiger Weise nach § 34 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 WpHG mit den Vorgaben in Art. 10 lit. a) der Transparenzrichtlinie (RL 2004/109/ EG) auf.
Die Richtlinienkonformität dieses Zurechnungstatbestands ist im Schrifttum umstritten und betrifft im Kern die Frage, ob die überschießende nationale Regelung zum Acting in Concert trotz der grundsätzlichen Vollharmonisierung der Transparenzrichtlinie gemäß der Ausnahmeregelung in Art. 3 Abs. 1a Unterabs. 4 Ziffer iii der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie (RL 2013/50/EU) zulässig ist. Hiernach sind strengere nationale Vorschriften zulässig, sofern sie im Zusammenhang mit Übernahmeangeboten, Zusammenschlüssen und anderen Transaktionen stehen, die die Eigentumsverhältnisse oder die Kontrolle von Unternehmen betreffen und die von den Behörden gemäß Artikel 4 der Übernahmerichtlinie (RL 2004/25/EG) beaufsichtigt werden. Der BGH legt dem EuGH daher die Frage vor, ob diese Ausnahmevorschrift dahin auszulegen ist, dass sie der Zurechnung aufgrund einer Abstimmung in sonstiger Weise nach § 34 Abs. 2 S. 1 Fall 2 WpHG entgegensteht.
Auswirkungen im Überblick
- Der Vorlagebeschluss des BGH zum Acting in Concert „in sonstiger Weise“ hat erhebliche Tragweite für die Praxis der Beteiligungspublizität und damit auch im Kontext von Übernahmen.
- Kurzfristig müssen Investoren und Emittenten mit dieser nun höchstrichterlich anerkannten Rechtsunsicherheit umgehen. Dies betrifft aktuell vor allem den Trend tatsächlicher Verhaltenskoordinierung von Investoren im Rahmen des Collaborative Engagement bzw. des ESG-Aktivismus sowie Fragen der Zulassung zur Hauptversammlung in der anstehenden Saison (Stichwort Rechtsverlust).
- Langfristig dürfte die veranlasste Vorabentscheidung des EuGH richtungsweisend dafür sein, inwieweit sich die nicht nur beim Acting in Concert, sondern an vielen Stellen über die Vorgaben der Transparenzrichtlinie hinausgehende Beteiligungspublizität legitimieren lässt, weil sie „im Zusammenhang mit Übernahmen steht“.
- Damit steht im Ergebnis der gewollte Auslegungsgleichlauf zwischen dem wertpapierhandelsrechtlichen (§ 34 WpHG) und dem übernahmerechtlichen, die Kontrollschwelle betreffenden Zurechnungsregime (§ 30 WpÜG) und damit die Funktion der Beteiligungspublizität als übernahmerechtlicher Vorfeldtatbestand auf dem Spiel.
Die Vorlagefrage ist nach Ansicht des BGH auch für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich. Denn stünde das Unionsrecht einem Acting in Concert aufgrund einer Verständigung in sonstiger Weise entgegen, müsste der BGH das Berufungsurteil aufheben und die Sache zu weiteren Feststellungen zum Vorliegen einer Vereinbarung zurückverweisen. Stünde das Unionsrecht einem Acting in Concert aufgrund einer Verständigung in sonstiger Weise nicht entgegen, wäre die Revision zurückzuweisen, weil die Kläger infolge eines Verstoßes gegen ihre Mitteilungspflichten nach § 44 Abs. 1 Satz 1 WpHG einem Rechtsverlust unterlagen und daher nicht zur Klage gegen die Hauptversammlungsbeschlüsse befugt gewesen wären.
Der BGH stellt klar, dass – anders als vereinzelt vertreten – ein solcher Rechtsverlust (und damit die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für die Stimmrechtszurechnung) nicht automatisch entfällt, wenn die erforderliche Stimmrechtsmitteilung für das Überschreiten oder Unterschreiten eines Schwellenwerts unterblieben ist und das Überschreiten oder Unterschreiten nachfolgend tatsächlich wieder rückgängig gemacht wird, sondern nur durch Erfüllung jedenfalls der letzten Mitteilungspflicht.
Tragweite
Der Beschluss des BGH zur Vorlage zur Vorabentscheidung für eine zentrale Frage der Stimmrechtszurechnung des Acting in Concert nach § 34 Abs. 2 WpHG hat kurzfristige und langfristige Tragweite:
Kurzfristige Rechtsunsicherheit
Kurzfristig müssen Investoren und Emittenten mit der nun höchstrichterlich anerkannten Rechtsunsicherheit über einer Stimmrechtszurechnung bei einem Acting in Concert „in sonstiger Weise“ umgehen. Dies betrifft aktuell vor allem den Trend tatsächlicher Verhaltenskoordinierung von Investoren im Rahmen des Collaborative Engagement bzw. des ESG-Aktivismus sowie Fragen der Zulassung zur Hauptversammlung in der anstehenden Saison. Mit einer Klärung der Auslegung durch den EuGH dürfte erfahrungsgemäß erst in etwa einem Jahr zu rechnen sein.
Für Investoren besteht Rechtsunsicherheit über eine Zurechnung nur im Ramen des Acting in Concert der Beteiligungspublizität. Das übernahmerechtliche Acting in Concert „in sonstiger Weise“ nach § 30 Abs. 2 WpÜG wirkt unzweifelhaft weiterhin zurechnungsbegründend.
Investoren, die in diesen Fällen erwägen, von einer Stimmrechtsmitteilung abzusehen, sehen sich weiterhin dem Risiko einer Ahndung durch die BaFin und eines Rechtsverlusts für den Fall ausgesetzt, dass sich die Zurechnungsvorschrift nachträglich als europarechtskonform erweist. Die Hürden, sich gegenüber Emittenten und BaFin angesichts der Rechtsunsicherheit auf einen unvermeidbaren Rechtsirrtum zu berufen, sind überaus streng.
Investoren, die vorsorglich weiterhin von einem zurechnungsbegründenden Acting in Concert in sonstiger Weise ausgehen, gehen mit einer Stimmrechtsmitteilung kein Risiko ein.
Emittenten gehen ein hohes Risiko ein, wenn sie Investoren selbst bei einem in tatsächlicher Hinsicht nachweisbaren Acting in Concert „in sonstiger Weise“ und fehlenden Stimmrechtsmitteilungen die Teilnahme an der Hauptversammlung verweigern. Die rechtlich erforderliche „hinreichender Gewissheit“ eines Rechtsverlustes dürfte angesichts der höchstrichterlich bestätigten Rechtsunsicherheit nicht hinreichend (rechts)sicher anzunehmen sein.
Rechtsunsicherheit besteht weiterhin bei der (vom BGH) nicht geklärten Frage, ob es bei einem wiederholten Verstoß gegen Mitteilungspflichten für einen Wegfall der Rechtsverlusts die Erfüllung nicht nur der letzten, sondern sämtlicher Mitteilungspflichten bedarf.
Langfristige Rechtssicherheit nach Vorabentscheidung des EuGH
Der Vorlagebeschluss des BGH betrifft nur das Acting in Concert „in sonstiger Weise“, veranlasst aber eine Entscheidung des EuGH über die Reichweite einer ausnahmsweisen Zulässigkeit strengerer Beteiligungspublizitätsregeln nach der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie, soweit diese „im Zusammenhang mit Übernahmen stehen“. Damit dürfte die Vorabentscheidung des EuGH relevant für das Verständnis sämtlicher Tatbestände der Beteiligungspublizität sein, die über die Vorgaben der Transparenzrichtlinie hinausgehen und deren Zulässigkeit mitunter auf diese übernahmebezogene Ausnahme von der Vollharmonisierung gestützt wird.
Steht nach Vorabentscheidung des EuGH fest, dass eine Zurechnung für ein Acting in Concert „in sonstiger Weise“ nicht europarechtskonform ist, gilt Folgendes:
- Der Tatbestand der Stimmrechtszurechnung bei einem Acting in Concert „in sonstiger Weise“ nach § 34 Abs. 2 S. 1 Var. 2 WpHG ist von deutschen Gerichten nicht mehr anzuwenden. Die BaFin hat ihre Aufsichtspraxis zu ändern.
- Lässt sich die Zurechnung beim Acting in Concert „in sonstiger Weise“ nicht legitimieren, weil sie nicht „im Zusammenhang mit Übernahmen steht“, so dürfte an vielen weiteren Stellen von einer Europarechtswidrigkeit der Zurechnungstatbestände des § 34 WpHG auszugehen sein. Dies betrifft zum einen die weiteren überschießenden Regelungen des Acting in Concert nach § 34 Abs. 2 WpHG (z.B. betreffend das Objekt der Abstimmung sowie die wechselseitige Zurechnung auch bei einflusslosen Poolmitgliedern) sowie erst recht die überschießenden Zurechnungstatbestände des § 34 Abs. 1 WpHG.
- Dem vom Gesetzgeber und von der BaFin angenommenen Auslegungsgleichlauf zwischen dem Zurechnungsregime des § 34 WpHG und dem übernahmerechtlichen Regime des § 30 WpÜG ist die Grundlage entzogen.
- Der Gesetzgeber ist aufgerufen, die Zurechnungstatbestände des § 34 WpHG auf ein europarechtskonformes Maß rückzubauen. Dies führt zur rechtspolitisch und dogmatisch misslichen Lage, dass dieselben Sachverhalte nach dem weiteren Zurechnungsregime für den Kontrolltatbestand des § 30 WpÜG bereits zu einer Angebotspflicht führen können, obgleich sie nach § 34 WpHG nicht einmal mitteilungspflichtig sind.
Steht nach Vorabentscheidung des EuGH fest, dass eine Zurechnung für ein Acting in Concert „in sonstiger Weise“ europarechtskonform ist, gilt Folgendes:
- Die überschießende Stimmrechtszurechnung des Acting in Concert ist generell legitim, d.h. nicht nur hinsichtlich des Abstimmungsmodus „in sonstiger Weise“, sondern auch hinsichtlich weiterer überschießender Regelungen (siehe vorstehend).
- Insoweit ist auch der vom Gesetzgeber und von der BaFin angenommene Auslegungsgleichlauf zwischen dem wertpapierhandelsrechtlichen Acting in Concert des 34 WpHG und dem übernahmerechtlichen Acting in Concert des § 30 WpÜG legitimiert.
- Die über die Vorgaben der Transparenzrichtlinie hinausgehenden Zurechnungstatbestände des § 34 Abs. 1 WpHG sind allerdings nicht automatisch legitimiert. Sie stehen nicht zwingend auch „im Zusammenhang mit Übernahmen“, da andernfalls die Vollharmonisierung der Beteiligungspublizität vollends ausgehöhlt würde („Gold Plating“).