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Ebnet der EuGH den Weg für Kartell-Sammel­klagen? Schluss­anträge lassen Kern­fragen offen

30.09.2024

Am 19. September 2024 hat Generalanwalt Szpunar seine mit Spannung erwarteten Schlussanträge in der EuGH-Vorlage des Landgerichts Dortmund (C-253/23) gestellt. Im Mittelpunkt steht die viel diskutierte Frage, ob ein Verbot des Sammelklage-Inkassomodells bei Kartellschadensersatzansprüchen gegen Unionsrecht verstößt. Die Schlussanträge geben darauf lediglich die Antwort, dass Geschädigten nicht jeglicher kollektiver Rechtsschutz versagt werden darf. Die eigentlichen Kernfragen bleiben jedoch unbeantwortet und den nationalen Gerichten überlassen.

Sachverhalt und Vorlagefragen

Im Ausgangsrechtsstreit klagt eine Inkassodienstleisterin, die abgetretene Kartellschadensersatzansprüche von 32 Sägewerken gegen das Land Nordrhein-Westfalen gebündelt geltend macht. Die Klägerin wirft dem Land vor, die Preise für Rundholz vereinheitlicht zu haben, indem sie die Vermarktung von Rundholz aus Landesforsten mit der Holzvermarktung für private und kommunale Waldbesitzer gebündelt hatte. Diese Organisation der Holzvermarktung habe deshalb gegen Art. 101 AEUV verstoßen. Auf eine bindende bestandskräftige Feststellung des Kartellverstoßes kann sich die Klägerin nicht berufen (sog. Stand-Alone-Klage), da das Bundeskartellamt das Verfahren gegen das Land nach Abgabe von Verpflichtungszusagen eingestellt hatte.

Zum Vorabentscheidungsersuchen kam es, weil sich das Landgericht Dortmund der Auffassung einiger Gerichte anschloss, dass in Kartellschadensersatzfällen das deutsche Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) es verbiete, die Ansprüche an ein Inkassounternehmen abzutreten, um eine Sammelklage zu ermöglichen (sog. Sammelklage-Inkassomodell). Denn Kartellschadenersatzfälle wären zu komplex und würden typischerweise Interessenkonflikte bergen. Dies gälte jedenfalls bei Stand-Alone-Klagen.

Nach Ansicht des Landgerichts biete deutsches Prozessrecht keine effektiven Alternativen, um kartellrechtliche Ansprüche kollektiv durchsetzen zu können. Deshalb ersuchte das Landgericht den Europäischen Gerichtshof zu entscheiden, ob das auf der entsprechenden Auslegung des RDG beruhende Verbot des Sammelklage-Inkassomodells mit Unionsrecht vereinbar sei – sowohl in Follow-On-Fällen, bei denen der Kartellverstoß bereits bindend festgestellt ist, als auch in Stand-Alone-Fällen, bei denen eine solche Feststellung fehlt.

Fokus auf Stand-Alone-Klagen

Generalanwalt Szpunar beschränkt seine Schlussanträge ausschließlich auf die Zulässigkeit von Abtretungsmodellen in Stand-Alone-Fällen. Die Vorlagefrage zu Follow-On-Fällen sei demgegenüber unzulässig, weil sie für den Rechtsstreit vor dem Landgericht Dortmund nicht erheblich ist. Der Europäische Gerichtshof brauche deshalb dazu keine Stellung nehmen.

Nationales Verfahrensrecht und europarechtlicher Effektivitätsgrundsatz

Der Generalanwalt betont, dass Unionsrecht ausschließlich die Voraussetzungen des Anspruchs auf Kartellschadensersatz festlege. Ob ein solcher Anspruch abgetreten werden könne, sei hingegen eine bloße Modalität seiner Geltendmachung, die das nationale Recht regele. Die Mitgliedstaaten seien deshalb unionsrechtlich nicht verpflichtet, Abtretungsmodelle anzuerkennen.

Allerdings müssten die Mitgliedstaaten den europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz und den in Art. 47 der Grundrechte-Charta verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes einhalten. Diese stünden einem pauschalen Inkassoverbot entgegen, weil dieses die Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen praktisch unmöglich machen, aber jedenfalls übermäßig erschweren würde.

Kurzum: Ein pauschales Verbot aller Abtretungsmodelle in Stand-Alone-Fällen ist nach Auffassung des Generalanwalts jedenfalls dann europarechtswidrig, sofern keine effektiven Rechtsschutzalternativen existieren.

Prämissen: Automatisches Inkassoverbot und fehlende Alternativen

Die vorstehende Bewertung des Generalanwalts basiert damit auf zwei Prämissen: Erstens unterstellte der Generalanwalt die Bewertung des Landgerichts als zutreffend, dass das RDG „automatisch“ jegliche Formen von Abtretungsmodellen für Kartellschadensersatzansprüche ausschließe. Zweitens unterstellte er, dass Unternehmen für die effektive Durchsetzung von Massenschäden keine Alternativen zur Verfügung stehen, die den Abtretungsmodellen gleichwertig seien. Unter diesen Bedingungen sei ein Inkassoverbot nicht durch legitime Ziele des nationalen Rechtsschutzsystems gerechtfertigt, wie beispielsweise dem Schutz vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen und der Vermeidung von Interessenkonflikten.

Ob diese Prämissen zutreffend sind, habe der Europäische Gerichtshof nicht nachzuprüfen, da diese Bewertung dem nationalen Gericht obliege. Seit dem Vorlageersuchen des Landgerichts Dortmund haben mehrere deutsche Gerichte Abtretungsmodelle grundsätzlich als zulässig anerkannt. Zudem ist im Oktober 2023 das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz in Kraft getreten. Diese ermöglicht nun die Bündelung von Schadenersatzansprüchen von Verbrauchern, aber auch kleinen Unternehmen, im Rahmen einer Abhilfeklage. In Anbetracht dessen dürften Zweifel berechtigt sein, dass die Auffassung des Landgerichts Dortmund von einem „automatischen“ Verbot von Abtretungsmodellen vollumfänglich zutreffend ist.

Kein Freibrief für Abtretungsmodelle

Die Schlussanträge erschöpfen sich in dem Ergebnis, dass in Stand-Alone-Fällen ein automatisches Inkassoverbot ohne gleichwertige Rechtsschutzoptionen unionsrechtswidrig ist. Eine generelle Legitimierung aller Abtretungsmodelle folgt daraus nicht. Vielmehr steht es den Mitgliedstaaten frei, bestimmte Abtretungsmodelle aufgrund ihrer spezifischen Merkmale zu untersagen oder alternative Mechanismen zur Rechtsdurchsetzung vorzusehen. Hier zeigen die intensiven Debatten der Zivilrechtlichen Abteilung auf dem 74. Deutschen Juristentag u.a. zum Pflichtenprogramm von Inkassodienstleistern, dass die rechtspolitische Entwicklung in Deutschland noch längst nicht abgeschlossen ist.

Interessenkonflikte und Prozessfinanzierung

Ein Merkmal, das der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen als möglichen Grund für das Verbot bestimmter Abtretungsmodelle hervorhebt, ist die Gefahr von Interessenkollisionen. Aus den Ausführungen des Generalanwalts lässt sich ableiten, dass die Vorschrift in § 4 RDG, die solche Konflikte verhindern soll, aus Unionssicht grundsätzlich keinen Bedenken begegnet.

Es bleibt somit Kernaufgabe des Tatrichters, jeden Einzelfall auf mögliche Interessenkonflikte zu prüfen, die die ordnungsgemäße Erbringung der Rechtsdienstleistung gegenüber den Anspruchsinhabern gefährden können. Hierbei wird er auch untersuchen müssen, ob – wie zumeist – ein Prozessfinanzierer involviert ist und diesem mehr als nur rein „theoretische und unbedeutende“ Einflussrechte zustehen. Denn diese könnte er nutzen, um seine eigene Prozessstrategie zum Nachteil der Anspruchsinhaber durchzusetzen. Auf diesen Aspekt stellen auch der deutsche Gesetzgeber und der Bundesgerichtshof entscheidend ab.

Die Europäische Kommission hat dieses Thema ebenfalls als Schlüsselfrage erkannt und begonnen, die Prozessfinanzierungslandschaft in der Europäischen Union zu untersuchen, um bestehende Probleme zu identifizieren und künftige regulatorische Maßnahmen anzustoßen.

Fazit: Nationale Gerichte bleiben gefordert

Mit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist in etwa sechs Monaten zu rechnen. In etwa 80 % der Fälle folgt er auch den Schlussanträgen des Generalanwalts. Auch wenn der Europäische Gerichtshof dem Entscheidungsvorschlag von Generalanwalt Szpunar folgt, bedeutet dies nicht, dass Sammelklagen „Tür und Tor offen stehen“ werden. Denn auch dann wird es weiterhin in der Hand der nationalen Gerichte liegen, die Grenzen von Abtretungsmodellen festzulegen, um unqualifizierte Rechtsdienstleistungen, Interessenkonflikte und unzulässige Einflussnahmen von Prozessfinanzierern zu verhindern. Zu diesen eigentlichen Kernfragen der Fallpraxis, insbesondere welche konkreten Umstände ein Inkassoverbot rechtfertigen oder welche alternativen Rechtsschutzmöglichkeiten gleichwertig erscheinen, wird es gegebenenfalls weiterer Vorabentscheidungsverfahren bedürfen, um eine europarechtliche Bewertung nationaler Regelungen zu erhalten. Das Feld der Sammelklagen, insbesondere für Kartellschadenersatzansprüche, bleibt also weiterhin in Bewegung.

Noerr berät laufend bei der Abwehr von Sammelklagen und in anderen Formen kollektiven Rechtsschutzes. Gerne verteidigen wir auch Ihr Unternehmen gegen Inanspruchnahmen durch Klagevehikel und Verbraucherverbände.