Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit: eine Analyse des Draghi-Reports aus wettbewerbsrechtlicher- und handelsrechtlicher Sicht
Anfang September 2024 stellte der ehemalige EZB-Präsident und ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi seinen bereits mit großen Erwartungen verbundenen und mehr als 300 Seiten umfassenden Bericht („Draghi-Report“) über die Zukunft der EU-Wettbewerbsfähigkeit vor. Der Draghi-Report folgt auf die im April vorgelegte Analyse von Enrico Letta zur Zukunft des Binnenmarkts und den im Juni veröffentlichten Bericht der Europäischen Kommission („EU-Kommission“) zur Entwicklung des Wettbewerbs in der EU in den letzten 25 Jahren. Draghis Veröffentlichung kommt zu einem möglicherweise entscheidenden Zeitpunkt. Denn keine zwei Wochen nach seiner Veröffentlichung wurde die designierte neue EU-Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Es liegt nahe, dass der Draghi-Report das Handeln Riberas und folglich EU-Kommission insgesamt beeinflussen wird.
Die Liste der von der EU zu lösenden wirtschaftlichen Probleme ist lang: Nach der Studie der EU- Kommission über die Entwicklung des Wettbewerbs in der EU hat die Wettbewerbsintensität und damit die Produktivitätssteigerung in der EU abgenommen, worunter die Wettbewerbsfähigkeit der EU leidet. Auf vielen Märkten hat die Konzentration zugenommen und der Abstand zwischen den Marktführern und den Wettbewerbern hat sich in Bezug auf Markup, Gewinn und Produktivität vergrößert. Für das Jahr 2024 prognostizierte die EU-Kommission ein Wirtschaftswachstum von gerade einmal 1 % und ein stärkeres Wirtschaftswachstum ist trotz etlicher Maßnahmen in den EU-Mitgliedstaaten auch für das kommende Jahr nicht absehbar. Zugleich fällt die EU wirtschaftlich immer deutlicher hinter die USA und China zurück, während der technologische Wandel weiter rasant an Fahrt aufnimmt. Auch die geopolitischen und geoökonomischen Spannungen, z.B. mit China, nehmen nicht ab. Anzeichen für eine grundlegende Änderung der internationalen Wirtschaftsordnung verdichten sich. Angesichts dessen identifiziert Draghi drei klare Handlungsaufträge: Die EU sollte erstens die Innovationslücke zu den USA und China schließen, zweitens, die Dekarbonisierung der EU-Wirtschaft vorantreiben und drittens, die Sicherheit der EU bei gleichzeitigem Abbau von externen Abhängigkeiten erhöhen.
Vor diesem Hintergrund sei nach Draghi für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der EU eine Investition von 700-800 Milliarden Euro erforderlich.
Der hiesige Beitrag beleuchtet die wichtigsten politischen Vorschläge aus wettbewerbsrechtlicher (A.) wie auch aus handelsrechtlicher (B.) Perspektive, bevor er ein Fazit zieht und einen Ausblick gibt (C.).
A. Wettbewerbsrechtliche Empfehlungen
Entscheidend für eine erfolgreiche Industriepolitik und stärkeres Wirtschaftswachstum ist nach Draghi die vollständige Verwirklichung des Binnenmarktes. Das unverfälschte Funktionieren des Binnenmarktes wird vor allem durch die Wettbewerbspolitik abgesichert, welche die Unternehmen und Verbraucher in der Union wirksam vor dem Missbrauch wirtschaftlicher Macht schützt. Allerdings hat sich die Weltwirtschaft auf innovationsintensivere Sektoren (bspw. den Technologiesektor) verlagert, in denen der Wettbewerb in der Regel auf digitalen Technologien beruht und in denen für die Wettbewerbsfähigkeit neben niedrigen Preisen vor allem Größenvorteile und Innovation entscheidend sind. Diese Märkte sind durch hohe Fixkosten, starke Daten- und Netzwerkeffekte und einem „Winner Takes All“-Charakter geprägt, die insgesamt zur Marktkonzentration führen. Draghi setzt sich daher für Reformen des Wettbewerbsrechts ein, um der sich radikal verändernden Welt und den (chinesischen und amerikanischen) „Superstar Companies“ mit einem adäquaten regulatorischen Instrumentarium zu begegnen.
Draghi schlägt zunächst vor, die in der Fusionskontrolle herrschende Anwendungspraxis anzupassen. Er empfiehlt, dass bei den Auswirkungen geplanter Zusammenschlüsse Innovationspotenziale stärker berücksichtigt werden sollten. Die EU-Kommission solle die Auswirkungen im Hinblick auf den Innovationsanreiz bewerten und erläutern, welche Nachweise die Unternehmen vorlegen könnten, um zu belegen, dass ihr Zusammenschluss die Innovationsfähigkeit und den Innovationsanreiz erhöhe, sodass eine „Innovation Defense” möglich sei. Diese Bewertung sei zwar komplexer als die Beurteilung von Preisauswirkungen, könne aber durch eine Aufstockung der Ressourcen bei der EU-Kommission (namentlich der Generaldirektion Wettbewerb) bewältigt werden, die auch insgesamt agiler und zukunftsgerichteter agieren soll. Regulatorisch sieht Draghi für die Umsetzung der vorgeschlagenen Änderung der Anwendungspraxis keine hohen Hürden. Es bedürfe lediglich einer Änderung der Arbeitsweise sowie aktuellere Leitlinien, um das derzeitige Fusionskontrollregime zukunftsfähig und Innovationen zugewandt zu gestalten.
Dieser Vorschlag korrespondiert mit seiner kritischen Analyse vergangener Verfahren, in denen nach seiner Einschätzung Zusammenschlüsse untersagt wurden, die ausreichend große Unternehmen hervorgebracht hätten, um den Wettbewerb mit chinesischen und amerikanischen Unternehmen aufzunehmen. Draghi greift damit eine bereits langanhaltende Diskussion auf, die 2019 ihren Höhepunkt mit der Untersagung der geplanten Siemens/Alstom-Fusion fand. Die beiden Unternehmen wollten fusionieren, um im internationalen Wettbewerb – besonders mit Blick auf den weltweit größten chinesischen Zughersteller CRRC – besser aufgestellt zu sein. Im Kontext des von Draghi ausgegebenen Ziels, „European Champions“ zu fördern, die es mit chinesischen und amerikanischen „Superstar Companies“ aufnehmen können, deutet er zudem an, dass hierfür auch die EU-Fusionskontrolle dienen kann.
Zu den weiteren wettbewerbspolitischen Empfehlungen gehört, dass die EU-Kommission in der Lage versetzt werden soll, Zusammenschlüsse ex post zu analysieren und ggf. zu intervenieren. Die Ex-post-Analyse könnte in ein neues Wettbewerbsinstrument integriert werden („New Competition Tool“). Mit diesem würde die EU-Kommission Markstudien durchführen, um strukturelle Probleme in bestimmten Märkten zu identifizieren. Und könnte diese anschließend im Rahmen einer Marktuntersuchung gemeinsam mit Unternehmen lösen. Es werden dabei vier Bereiche hervorgehoben, in denen traditionelle Wettbewerbsinstrumente nicht mehr ausreichend sein sollen (u.a. bei stillschweigender Kollusion). Dieses New Competition Tool ist keine neue Idee Draghis, vielmehr greift Draghi dabei einen Ansatz der EU-Kommission auf, welcher schon 2020 in Form eines Gutachtens veröffentlich, dann aber nicht weiterverfolgt wurde. Schließlich empfiehlt Draghi, insbesondere in einfach gelagerten Fällen Guidelines und Templates zu verwenden, um die Verfahrensdauer zu verkürzen, Verfahrensausgänge vorhersehbarer zu machen und damit im Ergebnis die Belastungen für Unternehmen zu reduzieren.
B. Handelspolitische Empfehlungen
Im Lichte starker geopolitischer Spannungen und dem hierdurch bedingten Wandel im internationalen Staatengefüge wie auch dem Reformstau in der WTO, spricht sich Draghi für eine einheitliche EU-Industriepolitik aus. Die fehlende Koordination zwischen den Mitgliedstaaten führe beispielsweise zu Überschneidungen wie auch unterschiedlichen Standards. Hierin identifiziert Draghi einen Grund dafür, dass die EU vor allem der US-amerikanischen und chinesischen Volkswirtschaft nachstehe, die jeweils eine kohärente Industriepolitik implementiert haben.
Die handelspolitischen Empfehlungen Draghis knüpfen im Wesentlichen an Aspekte der EU Economic Security Strategy an. Diese markierte bereits im Sommer 2023 einen einschneidenden Richtungswechsel der EU-Handelsstrategie: So verschob sich der Fokus der EU-Kommission von multi- und plurilateraler Kooperation zu einer verstärkten Konzentration auf unilaterale Ziele und Interessen der EU. Dies betrifft unter anderem die Bereiche Dumping, die Ausübung von wirtschaftlichem Zwang auf die EU, ausländische Subventionen im EU-Binnenmarkt, und die Verhinderung von Technologieabwanderung. Gleichzeitig befürwortet er die gezielte Ausweitung von bilateralen Handelspartnerschaften, die im Einklang mit den unilateralen Zielen der EU stehen. Teil dieser Strategie ist insbesondere der Abbau von internationalen Abhängigkeiten, um dadurch entstandene Angriffsflächen anderer Staaten auf die EU zu reduzieren.
Draghi betont zwar einerseits, dass eine gewisse handelspolitische Offenheit notwendig ist, um Handelsbarrieren beispielsweise in Bezug auf innovative Technologien abzubauen. Andererseits seien in anderen Bereichen oder gar in Bezug auf bestimmte Handelspartner sog. „Level Playing Fields“ zu erhalten bzw. sogar protektionistische Maßnahmen seitens der EU angezeigt. Letzteres sei nach Einschätzung Draghis vor allem in Bezug auf Dekarbonisierungsmaßnahmen erforderlich. Daher unterstützt Draghi eine Loslösung von einem „all fits one“-Ansatz der Handelspolitik und spricht sich für eine flexiblere, individuelle Herangehensweise an die EU-Handelspolitik aus. Auch sollten nach Ansicht Draghis handelspolitische Maßnahmen pragmatisch und zur Unterstützung der Wettbewerbsfähigkeit der EU eingesetzt werden, Kontinuität aufweisen und auch Verbraucherinteressen entsprechen.
Zudem plädiert er für eine verstärkte Koordinierung in der Investitionsprüfung. Diesen Punkt hatte die EU-Kommission bereits im Januar 2024 zur Ergänzung der EU Economic Security Strategy aufgegriffen. Seither wird mit einer Novelle der EU Investment Screening Verordnung gerechnet. Geplant ist u.a. Investitionsprüfungen in nunmehr allen EU-Mitgliedstaaten verbindlich vorzuschreiben, die Rolle der EU-Kommission im Rahmen der Investitionsprüfung zu stärken, wie auch die Rechenschaftspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der EU-Kommission zu erhöhen.
C. Fazit und Ausblick
Der Draghi-Report dürfte die Arbeit der EU-Kommission in den kommenden Jahren stark beeinflussen und könnte die internationalen Beziehungen der EU prägen. Dabei ist Draghis Botschaft eindeutig: Der Wirtschaftsstandort Europa darf für Unternehmen keine erheblichen Wettbewerbsnachteile bedeuten. Präsidentin Ursula von der Leyen sprach sich in ihren „Politischen Leitlinien für die neue europäische Kommission 2024-2029“ für einen „neuen Ansatz in der Wettbewerbspolitik“ aus, der förderlicher für Unternehmen ist, die auf globalen Märkten expandieren. Dieser Ansatz sollte sich demnach auch in der Art und Weise niederschlagen, wie die EU-Kommission Zusammenschlüsse beurteilt, damit Innovation und Resilienz in vollem Umfang berücksichtigt werden. Auch der an die designierte EU-Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera adressierte Mission Letter enthält den Auftrag, das Wettbewerbsrecht zu modernisieren und dabei zahlreiche Vorschläge aus dem Draghi-Report zu berücksichtigen. Explizit soll sie die Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse überprüfen, um sicherzustellen, dass den für die EU-Wirtschaft wichtigen Faktoren, wie etwa Innovation, ausreichend Gewicht beigemessen wird.
Aus handelspolitischer Sicht bestätigt der Draghi-Report viele Maßnahmen, welche die EU bereits im Rahmen ihrer EU Economic Security Strategy angestoßen hat und ordnet diese in den weiteren Kontext der EU-Wettbewerbsfähigkeit ein. Auch der Mission Letter an den designierten EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič bezieht sich stark auf die EU Economic Security Strategy, betont aber zugleich das fortwährende Engagement der EU in der WTO und ihren Glauben an freien und fairen Handel zur Sicherung von Wohlstand. Insgesamt führen die wettbewerbsrechtlichen wie auch handelspolitischen Ausführungen im Draghi-Report vor Augen, dass die EU nicht nur komplexen Herausforderungen ausgesetzt ist, sondern auch gehalten ist, diese anzunehmen.