Das Gericht erklärt Veto der Europäischen Kommission gegen Zusammenschlussvorhaben Hutchison/Telefónica für nichtig
Erhebliche Auswirkungen auf die fusionskontrollrechtliche Praxis zu erwarten
Mit einem bemerkenswerten Urteil vom 28. Mai 2020 (Rechtssache T 399/16) erklärte das Gericht der Europäischen Union („Gericht“) das Verbot der Europäischen Kommission („Kommission“) der geplanten Übernahme der Telefónica Europe Plc (O2) durch CK Hutchison für nichtig (Kommission, Fall M.7612 ).
Das Verbot der Kommission im Jahr 2016 gründete sich auf zwei Bedenken bezüglich des Endkundenmarktes und einem Bedenken in Bezug auf den Vorleistungsmarkt. Es ist das erste Mal, dass sich das Gericht mit der Anwendung der Europäischen Fusionskontrollverordnung („ FKVO“) auf nicht koordinierte Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf oligopolistischen Märkten befasst. In dem Maße, in dem die Feststellungen verbindlich werden, werden sie die Entscheidungspraxis der Kommission stark beeinflussen.
Hintergrund
Oligopolistische Märkte sind durch eine geringe Anzahl von Anbietern gekennzeichnet. Zwar führt eine Fusion zwischen zwei Anbietern auf einem oligopolistischen Markt nicht notwendigerweise zur Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung, dennoch kann der Wettbewerb erheblich behindert werden, wenn das fusionierte Unternehmen in der Lage ist, die Wettbewerbsparameter, wie etwa den Preis, ungeachtet des Verhaltens der Wettbewerber selbst zu bestimmen. Auf die Erfassung solcher nicht koordinierten Auswirkungen zielte die Reform des Fusionskontrollsystems von 2004 gerade ab, mit der der materiell-rechtliche Prüfungsmaßstab einer „erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ (SIEC-Test) eingeführt wurde. In der Telekommunikationsbranche hatte die Anwendung dieses Maßstabs die Kommission dazu veranlasst, „four-to-three“-Zusammenschlüsse, d.h. Transaktionen, die die Anzahl der Mobilfunknetzbetreiber von vier auf drei reduzieren, sehr kritisch gegenüberzustehen.
Urteil
Das Urteil ordnet und klärt wichtige Konzepte des materiell-rechtlichen Prüfungstests und des Beweisstandards der FKVO und stellt eine wichtige Anforderung in Bezug auf fusionsspezifische Effizienzgewinne auf.
Das Gericht kritisiert scharf die uneinheitliche Anwendung des gesetzlichen SIEC-Tests gemäß Art. 2 Abs.3 FKVO und der verbundenen Konzepte der „Beseitigung beträchtlichen Wettbewerbsdrucks“ (Erwägungsgrund 25 FKVO), der „wichtigen Wettbewerbskraft“ (Ziff. 37 der Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse der Kommission) sowie des „nahWettbewerbers“ (Ziff. 28 der Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse der Kommission), die zur Auslegung des SIEC-Tests angewandt wurden.
- Um eine Transaktion zu verbieten, muss die Kommission (i) die Beseitigung
des beträchtlichen Wettbewerbsdrucks, den die am Zusammenschluss
beteiligten Parteien aufeinander ausgeübt haben, und (ii) eine Minderung
des Wettbewerbsdrucks auf die verbleibenden Wettbewerber in ihre Prüfung
einbeziehen.
- Nur die Ausschaltung eines besonders nahen Wettbewerbers kann Anlass zu
Bedenken geben - und zwar in Bezug auf die Rivalität zwischen den Parteien
des Zusammenschlusses und nicht auf die Rivalität zwischen irgendwelchen
Wettbewerbern auf einem oligopolistischen Markt. Die Tatsache, dass die
Parteien des Zusammenschlusses in einigen Marktsegmenten relativ nahe
Wettbewerber sein können, reicht für ein Verbot nicht aus, da sonst jeder
„four-to-three“-Zusammenschluss verboten werden müsste.
- Die Übernahme eines Wettbewerbers auf einem oligopolistischen Markt beseitigt nicht notwendigerweise eine wichtige Wettbewerbskraft; letztere müsste sich hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Wettbewerb von ihren Wettbewerbern abheben. Das Gericht stellt fest, dass das Verhalten in der Vergangenheit nicht notwendigerweise auf die gegenwärtige oder zukünftige Rolle eines Unternehmens hinweist.
Das Gericht erkennt an, dass die Kommission quantitative Bewertungen wie die Analyse des Preiserhöhungsdrucks (Upward Pricing Pressure - UPP) anwendet, um die Anreize für die Parteien des Zusammenschlusses zu simulieren, die Preise zu erhöhen. Das Gericht bestätigt zwar, dass die Kommission nicht verpflichtet ist, eine De-minimis-Regel oder einen Safe-Harbour-Schwellenwert anzuwenden, weist jedoch darauf hin, dass sie nachweisen muss, dass die Preise nach der Beseitigung des beträchtlichen Wettbewerbsdrucks mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erheblich steigen würden. Interessanterweise verlangt das Gericht hier, dass die Kommission in ihre Analyse die Standardeffizienzvorteile einbezieht, die der Zusammenschluss bewirken könnte.
Das Gericht weist die Kommission darauf hin, dass strenge Beweisanforderungen zu erfüllen sind. Zwar sei die Kommission nicht verpflichtet, Beweise dafür vorzulegen, dass die Schadensszenarien und -theorien unweigerlich eintreten würden, doch müsse sie hinreichende Beweise vorlegen, um die große Wahrscheinlichkeit der Existenz erheblicher Beeinträchtigungen aufzuzeigen. Somit sind die Beweisanforderungen strenger als diejenigen, wonach eine erhebliche Beeinträchtigung wirksamen Wettbewerbs nach einer Abwägung der Wahrscheinlichkeiten eher wahrscheinlich ist als nicht, aber weniger streng als ein Beweisstandard, der darauf beruht, dass die Beeinträchtigung über jeden vernünftigen Zweifel erhaben ist.
Kommentar
Das Urteil ist ein großer Rückschlag für den Ansatz der Kommission bei der Bewertung nicht koordinierter Auswirkungen. Das Gericht verwirft Schlüsselelemente der Auslegung (und weitreichenden Anwendung) des SIEC-Tests durch die Kommission. Die Kommission wird nun grundlegende Begriffe ihrer fusionskontrollrechtlichen Prüfung sorgfältig überdenken müssen: Wann sind die Parteien eines Zusammenschlusses besonders nahe Wettbewerber? Wann hebt sich eine Partei eines Zusammenschlusses von der Konkurrenz ab? Wie können Standard-Effizienzen in Preiserhöhungssimulationen geprüft werden?
Über Transaktionen auf oligopolistischen Märkten hinaus stellt das Urteil hohe Beweisanforderungen an die inhärente vorausschauende Analyse der potentiellen Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf den Wettbewerb auf. Die Kommission findet sich zukünftig möglicherweise in einer misslichen Situation wieder, in der sie gleichzeitig den Anforderungen des Gerichts, den Forderungen nach einer genauen Prüfung von „Killer“-Übernahmen (Übernahmen von neu gegründeten oder im Entstehen begriffenen Unternehmen, bei denen eine erhebliche Unsicherheit im Hinblick auf die kontrafaktische Situation besteht) und den politischen Forderungen einiger Mitgliedstaaten nach einem dynamischeren und langfristigeren Ansatz bei Fusionen genügen muss. Wird das Urteil die Konsolidierung erleichtern? Wahrscheinlich nicht - es wird eher bedeuten, dass die Untersuchungen kritischer Transaktionen für die betroffenen Unternehmen langwieriger und belastender werden. Aber zunächst wird die Kommission entscheiden müssen, ob sie gegen das Urteil Rechtsmittel einlegt oder nicht, was angesichts der zentralen Fragen, um die es geht, wahrscheinlich ist.