Studie

Praxis der Erteilung von Sanierungs­befreiungen

Von Dr. Volker Land und Dr. Stephan Schulz

22.10.2021
Zuerst veröffentlicht im Noerr Public M&A-Report 02/2021

 

Hintergrund

Finanzielle Krisen sind für alle Beteiligten besonders herausfordernde Situationen, gerade wenn die betroffene Gesellschaft börsennotiert ist. Übernahmerechtliche Aspekte können dabei durchaus eine wichtige Rolle spielen. Wenn die Zielgesellschaft einen Investor gewinnen konnte, der ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Situation bereit ist, signifikant in das Eigenkapital zu investieren, kann der Vollzug dieses Plans bei Überschreiten der Schwelle von 30% der Stimmrechte zu einem Kontrollerwerb des Investors i.S.d. WpÜG führen. Grundsätzlich hat dies zur Folge, dass der Investor ein Pflichtangebot gem. § 35 Abs. 1 WpÜG abgeben muss. Er muss also allen anderen Aktionären den Erwerb ihrer Aktien anbieten und dies unter Beachtung der Mindestpreisregeln, d.h. mindestens in Höhe des eigenen Vorerwerbspreises oder des 3-Monats-VWAP bezogen auf den Zeitpunkt des Kontrollerwerbs, wobei der jeweils höhere Betrag maßgeblich ist. Aus Sicht des Investors fließen dadurch an Dritte Mittel, die nicht für eine Sanierung der Gesellschaft zur Verfügung stehen.

Dass diese Rechtslage unbefriedigend sein und wirtschaftlich sinnvolle Sanierungen verhindern kann, hat der Gesetzgeber erkannt. Gemäß § 37 Abs. 1 WpÜG kann die BaFin einen Bieter unter anderem dann von den genannten Verpflichtungen befreien, wenn dies im Hinblick auf die mit der Erlangung der Kontrolle beabsichtigte Zielsetzung unter Berücksichtigung der Interessen des Bieters und der Inhaber der Aktien der Zielgesellschaft gerechtfertigt erscheint. Nach § 9 Satz 1 Nr. 3 WpÜG-AngebotsVO kann eine solche Befreiung insbesondere bei Erlangung der Kontrolle über die Zielgesellschaft im Zusammenhang mit ihrer Sanierung erteilt werden (sog. Sanierungsbefreiung).

Wir haben das aktuelle wirtschaftliche Umfeld, insbesondere die Diskussionen um eine möglicherweise drohende „Insolvenzwelle“ nach dem Auslaufen der Covid-19-Hilfsmaßnahmen, zum Anlass genommen, die Praxis der Erteilung von Sanierungsbefreiungen anhand der Veröffentlichungen auf der Homepage der BaFin (Auf der Homepage der BaFin werden nicht sämtliche, sondern – im Sprachgebrauch der BaFin – nur „bedeutsame“ Befreiungsentscheidungen veröffentlicht. Es besteht keine grundsätzliche Veröffentlichungspflicht des Antragstellers, vielmehr steht eine Veröffentlichung im Ermessen der Behörde (vgl. § 44 WpÜG).) zu untersuchen.

Praktische Bedeutung

Zunächst zeigt sich, dass Sanierungsbefreiungen eine erhebliche praktische Bedeutung haben. So wurden auf der Homepage der BaFin 105 Befreiungsentscheidungen gem. §§ 36, 37 WpÜG veröffentlicht, die den Zeitraum von 2011 bis heute betreffen. Hierbei ging es in 25 Fällen (rd. 23,8%) um Sanierungsbefreiungen (Stand: 29. August 2021). Ein Anstieg der jährlichen Zahl der Sanierungsbefreiungen infolge der Covid-19-Pandemie lässt sich derzeit nicht beobachten: Im Jahr 2021 gab es bislang nur eine veröffentlichte Sanierungsbefreiung (TUI AG), ebenso im Gesamtjahr 2020 (co.don AG).

Voraussetzungen für eine Sanierungsbefreiung

In der Verwaltungspraxis der BaFin und in der übernahmerechtlichen Literatur ist anerkannt, dass eine Sanierungsbefreiung erteilt werden kann, wenn (i) die Zielgesellschaft sanierungsbedürftig und sanierungsfähig ist und (ii) der Bieter für die Sanierung der Gesellschaft einen Beitrag leistet. Liegen diese Voraussetzungen vor, trifft die Behörde eine Ermessensentscheidung über die Befreiung von der Pflicht zur Abgabe des Pflichtangebots.

Sanierungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Zielgesellschaft

Notwendig für die Erteilung einer Sanierungsbefreiung ist zunächst die Sanierungsbedürftigkeit der Zielgesellschaft. Eine Gesellschaft wird als sanierungsbedürftig angesehen, wenn für ihr Geschäft bestandsgefährdende Risiken i.S.d. § 322 Abs. 2 Satz 3 HGB bestehen oder drohen. Dem Bieter obliegt es, im Rahmen der Antragstellung derartige Risiken gegenüber der BaFin nachzuweisen. Im Regelfall ist hierzu eine Bescheinigung eines Wirtschaftsprüfers oder eines anderen externen Gutachters erforderlich. Dabei kann es ausreichend sein, wenn auf die Hinweise des Abschlussprüfers im Bestätigungsvermerk gem. § 322 Abs. 2 Satz 3 HGB rekurriert wird (so in acht von 25 Fällen, entspr. 32,0%). Teilweise werden der BaFin separate Stellungnahmen vorgelegt (so in acht von 25 Fällen, entspr. 32,0%), wobei zum Teil auch Aussagen in der Stellungnahme zur Sanierungsfähigkeit (siehe hierzu noch im Folgenden) herangezogen werden. Ob der Nachweis der Sanierungsbedürftigkeit in der Praxis ausnahmslos durch die Stellungnahme eines Dritten erbracht wird, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Unter den veröffentlichten Entscheidungen finden sich Fälle, in denen aus der Veröffentlichung nicht eindeutig hervorgeht, ob eine externe Stellungnahme vorlag. Diese Entscheidungen betreffen zumeist Fälle, in denen die Zielgesellschaft bereits einen Insolvenzantrag gestellt hat (fünf von 25 Fällen, entspr. 20%).

Darüber hinaus muss die Sanierungsfähigkeit der Zielgesellschaft bestehen. Hierzu muss ein Sanierungskonzept erstellt und vorgelegt werden, das objektiv geeignet ist, den Fortbestand der Zielgesellschaft zu sichern. Auch hinsichtlich des Nachweises der Sanierungsfähigkeit ist nach h.M. und Verwaltungspraxis in der Regel erforderlich, dass ein unabhängiges Gutachten vorgelegt wird, das die Eignung der im Sanierungskonzept vorgesehenen Maßnahmen zum Erreichen des Sanierungsziels bestätigt. Wann ein Ausnahmefall vorliegt, der ein Abweichen von dieser Regel rechtfertigt, wird aus der veröffentlichten Praxis der BaFin jedoch nicht ersichtlich. Nahezu alle veröffentlichten Entscheidungen nehmen zur Frage der Sanierungsfähigkeit auf ein Gutachten Bezug (24 von 25 Fällen, (In einem Fall lässt sich der Veröffentlichung nicht entnehmen, ob ein Gutachten erstellt wurde oder nicht) entspr. 96%), das entweder gemäß oder in Anlehnung des IDW Standards S6 erstellt wurde.

Sanierungsbeitrag des Bieters

Schließlich muss der Investor einen Sanierungsbeitrag leisten. Dabei ist eine Vielzahl von Maßnahmen denkbar. Rechtlich erforderlich ist nach der Verwaltungspraxis der BaFin, dass der Investor einen wesentlichen wirtschaftlich messbaren Vorteil für die Zielgesellschaft leistet. Die auf der BaFin-Homepage veröffentlichten Sanierungsbefreiungen zeigen, dass die Beiträge häufig (in 15 von 25 Fällen, entspr. 60%) eine Kombination verschiedener Maßnahmen umfassen. Die folgende Übersicht zeigt die Häufigkeit unterschiedlicher Sanierungsbeiträge bei den 25 untersuchten Fällen von Sanierungsbefreiungen.

Public M&A Report 2/2021 Grafik 8 Sanierungsbeiträge bei verschiedenen Sanierungsbefreiungen

Fazit

Die Untersuchung zeigt, dass die Erteilung einer Sanierungsbefreiung in formeller Hinsicht an strenge Voraussetzungen geknüpft ist. Investoren, die eine solche Befreiung anstreben, sollten darauf vorbereitet sein, dass jedenfalls die Sanierungsfähigkeit der Zielgesellschaft gutachterlich nachgewiesen werden muss. Sofern nicht ohnehin ein entsprechendes Gutachten vorliegt (das etwa im Zusammenhang mit einer Refinanzierung von Krediten erstellt wurde), muss es für die Zwecke der Befreiung nach dem WpÜG erstellt werden. Mehr Flexibilität zeigt sich bei den erforderlichen Sanierungsbeiträgen des Investors, wo die veröffentlichte Behördenpraxis ein buntes Bild an Maßnahmen zeigt, die grundsätzlich als ausreichend angesehen wurden. Ob ein konkreter Sanierungsbeitrag ausreichend ist, kann freilich nicht ohne Blick auf das maßgebliche Sanierungskonzept beurteilt werden.