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Digital Markets Act: TikTok bleibt als Gatekeeper haftbar

18.07.2024

Der Digital Markets Act (DMA) zielt darauf ab, durch die Regulierung so genannter Gatekeeper einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten und die Bestreitbarkeit der Märkte im digitalen Sektor zu schützen. Die Europäische Kommission („Kommission“) hatte Bytedance am 5. September 2023 als Gatekeeper für sein soziales Netzwerk TikTok benannt, da die einschlägigen quantitativen Schwellenwerte des DMA erreicht wurden.

Bytedance setzte sich gegen die Benennung von TikTok vor dem Gericht der Europäischen Union („EuG“) zur Wehr. Die Klage stützt sich darauf, dass der DMA für Unternehmen, die die quantitativen Schwellenwerte erreichen, einen Mechanismus zur Widerlegung der Benennungsvermutung enthält. Um falsch-positive Fälle – d.h. unrichtige Benennungen – zu vermeiden, kann ein Unternehmen die auf quantitativen Kriterien basierende Benennungsvermutung anfechten, wenn es hinreichend substanziierte Argumente vorbringt.

Da Bytedance das erste Unternehmen ist, das eine gerichtliche Überprüfung einer DMA-Entscheidung der Kommission veranlasst hat, ist die Entscheidung von großer Bedeutung für die Anwendung des DMA. Die Entscheidung klärt wichtige Fragen im Zusammenhang mit der Benennung und dem Mechanismus zur deren Widerlegung, die im Mittelpunkt der neuen Rechtsvorschriften stehen. Daher ist diese Entscheidung auch für die anderen anhängigen Klagen gegen die (Nicht-)Benennungsentscheidungen der Kommission oder mögliche künftige Anfechtungen von Bedeutung.

Urteil

Das EuG wies die Klage von Bytedance in vollem Umfang ab. Das EuG stellte zwar fest, dass der Kommission bei ihrer Beurteilung einige Fehler unterlaufen seien, diese jedoch keinen Einfluss auf das Ergebnis hatten. Das Urteil bestätigt daher die Einstufung von Bytedance als Gatekeeper gemäß dem DMA.

Das EuG nutzte die Gelegenheit, um wichtige allgemeine Fragen im Zusammenhang mit der Gatekeeper-Benennung und dem Mechanismus zur Widerlegung der Benennungsvermutung zu klären:

  • Beweisanforderungen: Das EuG wies auf die hohen Beweisanforderungen für die Entkräftung der durch das Erreichen der quantitativen Schwellenwerte aufgestellten Vermutung hin. Es genügt nicht, dass Zweifel an der Gatekeeper-Stellung bestehen. Erforderlich ist vielmehr ein hohes Maß an Plausibilität.
  • Argumente und Beweise, die für die Widerlegung herangezogen werden können: Rechtfertigungen, die nur auf wirtschaftlichen Gründen basieren und durch die eine Marktdefinition vorgenommen oder Effizienzgewinne nachgewiesen werden sollen, sollten nicht berücksichtigt werden, da dies für die Benennung als Gatekeeper nicht relevant ist. Das EuG erläuterte, dass Argumente und Beweise qualitativer Art in direktem Zusammenhang mit den quantitativen Kriterien des DMA stehen können und demzufolge genauso wie quantitative Argumente und Beweise zu berücksichtigen sind. Daher hielt es das EuG für künstlich, beide Arten von Argumenten und Beweisen voneinander zu trennen, und stellte fest, dass die Aufzählung der Elemente, die nach Erwägungsgrund 23 des DMA berücksichtigt werden können, nicht erschöpfend sei.
  • Gleichbehandlungsgrundsatz: Die Rechtfertigung müsse außerdem die Umstände berücksichtigen, unter denen der betreffende zentrale Plattformdienst (Core Platform Service – „CPS“) tätig ist. Wenn der Gatekeeper im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz auf andere Entscheidungen der Kommission verweist, müsse er erklären, warum die Situation hinreichend vergleichbar sei, insbesondere wenn andere CPS-Kategorien betroffen sind.

In der Sache vertraten die Richter am EuG die Auffassung, dass die von Bytedance vorgebrachten Argumente nicht hinreichend substanziiert seien, um die durch das Erreichen der quantitativen Schwellenwerte aufgestellten Vermutungen eindeutig zu entkräften:

  • Keine Widerlegung der Vermutung, dass Bytedance erheblichen Einfluss auf den europäischen Binnenmarkt hatte: Ein erheblicher Einfluss auf dem europäischen Binnenmarkt erfordere nicht notwendigerweise einen hohen Umsatz in der EU, was sich aus dem alternativen und nicht kumulativen Schwellenwert des globalen Marktwertes ergebe. Bytedance habe den Schwellenwert des globalen Marktwertes bei weitem überschritten, was zusammen mit der großen Zahl von Nutzern in der EU die zu erwartende künftige Stellung und Wirkung auf dem europäischen Binnenmarkt widerspiegele. Bytedance habe die finanziellen Möglichkeiten und das Potenzial, diese Nutzer zu monetarisieren. Auch wenn ein geringerer EU-Umsatz an sich nicht ausreiche, um die Vermutung zu widerlegen, bleibe er aber dennoch ein wichtiges Argument und müsse von der Kommission bei ihrer Bewertung berücksichtigt werden.
  • Keine Widerlegung der Vermutung, dass TikTok für gewerbliche Nutzer als wichtiges Zugangstor zu Endnutzern diente: Das Vorhandensein eines Ökosystems, die parallele Nutzung mehrerer Dienste (Multi-Homing), Netzwerk- und Bindungseffekte, die relative Größe sowie Werbeeinnahmen (oder eine andere gewerbliche Nutzung je nach Geschäftsmodell) könnten relevante Faktoren für die Einstufung eines CPS als wichtiges Zugangstor darstellen. Das Fehlen einer dieser Faktoren reiche jedoch nicht zwingend aus, um die durch die quantitativen Kriterien aufgestellte Vermutung zu widerlegen. Die Beweislast liege zudem beim Gatekeeper. Unabhängig davon, ob Bytedance über ein Ökosystem verfügt, habe TikTok erhebliche Netzwerkeffekte und eine starke Bindung der Nutzer erreicht, insbesondere mit Blick auf die höheren Nutzungsraten bei jungen Nutzern. Die Relevanz der Kriterien hänge auch von den Umständen ab, unter denen der betreffende CPS tätig sei. Es sei generell nicht notwendig, dass es sich bei dem CPS um den einzigen Kanal handelt, um Endnutzer zu erreichen, sprich eine Abhängigkeit der gewerblichen Nutzer von dem CPS besteht. Multi-Homing sei insbesondere bei sozialen Netzwerken gängige Praxis. Was die relative Größe betreffe, so habe TikTok seine Nutzerzahlen seit seinem Start in der EU im Jahr 2018 schnell und exponentiell gesteigert und sei mittlerweile halb so groß wie Facebook und Instagram.
  • Keine Widerlegung der Vermutung, dass Bytedance eine gefestigte und dauerhafte Position innehatte: Der Begriff der „gefestigten und dauerhaften Position“ überschneide sich nicht notwendigerweise mit dem Begriff der „marktbeherrschenden Stellung“ und erfordere auch nicht, dass die Position „unangreifbar“ sei. Es bedeute lediglich, dass die Bestreitbarkeit begrenzt ist, wobei sich die Bestreitbarkeit nach dem Verständnis des EuG insbesondere auf die Fähigkeit von Nicht-Gatekeepern beziehe, die Position anzufechten. TikTok sei aufgrund seiner Nutzerzahlen inzwischen ein etablierter Anbieter in der EU. Das Unternehmen habe seine Position in den letzten Jahren trotz der Einführung konkurrierender Funktionen wie Reels und Shorts durch seine Wettbewerber gestärkt und könne daher nicht mehr als Herausforderer angesehen werden.

Kommentar

Nach einem nur acht Monate dauernden Rechtsstreit ist dieser erste echte Lackmustest für die Wirksamkeit des DMA und die Handlungsfähigkeit der Kommission somit eindeutig positiv ausgefallen. Insbesondere hat das EuG nun unmissverständlich klargestellt, welchen rechtlichen Maßstab die Kommission bei der Bewertung von Argumenten zur Widerlegung der Gatekeeper-Vermutung anlegen muss. Das Urteil des EuG ist somit ein eindeutiges Signal an andere potenzielle Gatekeeper: Bei Erreichen der quantitativen Schwellenwerte des DMA wird es äußerst schwierig, die Einstufung als Gatekeeper durch die Kommission anzufechten. Darüber hinaus ist das Urteil des EuG besonders interessant für die weiteren anhängigen und künftigen Gerichtsverfahren, die Gatekeeper betreffen (z.B. Meta und Apple), und unterstreicht die Wirksamkeit des DMA im Hinblick auf ihr übergeordnetes Ziel, die Bestreitbarkeit und Fairness auf den digitalen Märkten zu gewährleisten.

Hintergrund

Wer sind die Gatekeeper und welche CPS wurden bereits benannt?

Der DMA zielt darauf ab, durch die Regulierung der so genannten Gatekeeper einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten und die Bestreitbarkeit der Märkte für digitale Dienste zu schützen. Gatekeeper sind Unternehmen, die die im DMA definierten CPS anbieten. Diese Dienste können als wichtige Schnittstelle zwischen einer großen Anzahl von gewerblichen Nutzern und Verbrauchern angesehen werden.

Insgesamt sind mittlerweile sieben Gatekeeper und 24 CPS benannt (weitere Einzelheiten finden Sie in unserem Beitrag auf Noerr News):

gatekeepers of the DMA

(Klicken Sie hier oder auf das Bild, um es zu vergrößern)

Wie werden Gatekeeper benannt und wie können sie sich gegen diese Benennung wehren?

Nur Unternehmen, die einen erheblichen Einfluss auf den europäischen Binnenmarkt haben, einen CPS bereitstellen, der gewerblichen Nutzern als wichtiges Zugangstor zu Endnutzern dient, und hinsichtlich ihrer Tätigkeiten eine gefestigte und dauerhafte Position innehaben oder absehbar ist, dass sie eine solche Position in naher Zukunft erlangen werden, werden als Gatekeeper benannt. Um diese Bedingungen zu beurteilen, stützt sich die Verordnung in erster Linie auf quantitative Schwellenwerte – eine Kombination aus EU-Umsatz oder globalem Marktwert und den monatlich aktiven Endnutzern und gewerblichen Nutzern des CPS in der EU in jedem der letzten drei Geschäftsjahre –, die, wenn sie erfüllt sind, zu der Vermutung führen, dass eine Gatekeeper-Position besteht. Die Unternehmen sind verpflichtet, die Schwellenwerte selbst zu überwachen und der Kommission zu melden, wenn sie erreicht werden.

Um falsch-positive Fälle – d.h. unrichtige Benennungen – zu vermeiden, sieht der DMA für Unternehmen, die die quantitativen Schwellenwerte erreichen, einen Widerlegungsmechanismus vor (Artikel 3 Absatz 5 DMA). Wenn die Gatekeeper hinreichend substanziierte Argumente vorbringen, die zeigen, dass sie keinen erheblichen Einfluss auf den europäischen Binnenmarkt haben oder für gewerbliche Nutzer längerfristig kein wichtiges Zugangstor zu Endkunden darstellen, kann die Kommission ausnahmsweise von einer Benennung absehen – wie es bei Gmail, Outlook.com, Samsung Internet Browser, X Ads und TikTok Ads der Fall war. Wenn die Argumente zwar substanziiert sind, aber die Vermutung der Schwellenwerte nicht eindeutig entkräften, kann die Kommission eine Marktuntersuchung einleiten, die innerhalb von fünf Monaten abgeschlossen werden sollte – wie es bei Microsoft Advertising, Bing, Edge und iMessage der Fall war und derzeit noch für das soziale Netzwerk X geprüft wird.

Erwägungsgrund 23 des DMA führt diesbezüglich aus, dass „[d]ie Kommission […] bei ihrer Beurteilung der vorgebrachten Belege und Argumente nur die Elemente berücksichtigen [sollte], die sich unmittelbar auf die quantitativen Kriterien beziehen“, und dass insbesondere „Rechtfertigungen auf Basis wirtschaftlicher Gründe, durch die eine Marktdefinition vorgenommen oder nachgewiesen werden soll, dass ein bestimmtes Verhalten eines Unternehmens, das zentrale Plattformdienste bereitstellt, Effizienzgewinne hervorbringt, […] nicht berücksichtigt werden [sollten]“.

Um falsch-negative Fälle – d.h. unrichtige Nicht-Benennungen – zu vermeiden, sieht der DMA auch die Möglichkeit vor, dass die Kommission einen CPS selbst dann benennt, wenn die quantitativen Schwellenwerte nicht erreicht werden (Artikel 3 Absatz 8 DMA). Dabei kann die Kommission ausdrücklich eine Liste von Kriterien, auch qualitativer Art, berücksichtigen. Die Liste umfasst z.B. das Vorhandensein von Netzwerk- und Bindungs-Effekten, Datenvorteilen, die parallele Nutzung mehrerer Dienste (Multi-Homing) sowie die konglomeratsartige Unternehmensstruktur / den Grad der vertikalen Integration. Die Kommission hat dieses Instrument erstmalig genutzt, um Apple für sein Betriebssystem iPadOS als Gatekeeper zu benennen, obwohl die quantitativen Schwellenwerte nicht erfüllt wurden.

Rechtliche Überprüfung der (Nicht-)Benennungsbeschlüsse der Kommission

Gatekeeper, die mit ihrer Benennung durch die Kommission nicht einverstanden sind, können vor dem EuG eine Nichtigkeitsklage erheben. Bytedance klagte am 16. November 2023 gegen die Benennung von TikTok (T-1077/23). Darüber hinaus stellte Bytedance am 20. November 2023 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (T-1077/23 R), der vom Präsidenten des EuG am 9. Februar 2024 zurückgewiesen wurde, da Bytedance die Voraussetzung der Dringlichkeit nicht nachgewiesen hatte. Das EuG gab jedoch dem Antrag von Bytedance statt, über die Rechtssache im beschleunigten Verfahren zu entscheiden, und erließ das Urteil acht Monate nach Einreichung der Klage.

Die Nichtigkeitsklagen anderer Gatekeeper gegen ihre Benennung für bestimmte CPS sind noch anhängig. Die am 15. November 2023 eingereichte Klage von Meta (T-1078/23) bezieht sich auf die Benennung von Facebook Messenger und Facebook Marketplace als CPS. Die am 16. November 2023 eingereichte Klage von Apple (T-1080/23) bezieht sich auf die Benennung von iOS und AppStore als CPS.

Jedoch können nicht nur Gatekeeper eine rechtliche Überprüfung der DMA-Entscheidungen der Kommission ersuchen. Auch Dritte können unter bestimmten Voraussetzungen rechtliche Schritte einleiten. So hat beispielsweise Opera öffentlich bekannt gegeben, gegen die Entscheidung der Kommission, Microsoft Edge trotz Erreichen der quantitativen Schwellenwerte nicht als CPS zu benennen, gerichtlich vorzugehen.

Das Buch "Das neue Recht der digitalen Märkte – Digital Markets Act (DMA)", das kürzlich von Dr. Jens Peter Schmidt und Dr. Fabian Hübener veröffentlicht wurde, ist unsere Einschätzung zu den Hintergründen, der Umsetzung und der Compliance mit dem DMA. Für eine weitere Beratung und individuelle Lösungen zum DMA und damit verbundenen wettbewerbsrechtlichen Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.