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Scheinselbstständigkeit: Europäische Kommission nimmt Plattformarbeit (Gig Economy) ins Visier

14.12.2021

Plattformarbeit ist längst in unserem Alltag angekommen. Egal ob die Lieferung von Essen, Lebensmitteln, Supermarktartikeln oder die Bereitstellung von Haushaltshilfe- sowie Handwerksdienstleistungen – plattformbasierte Arbeit etabliert sich immer stärker in unserer Arbeitswelt und unserem Alltag.

Dies spiegelt sich auch in Zahlen wider. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass die Plattformökonomie in den vergangenen 5 Jahren um nicht weniger als 500 % gewachsen ist. Die Plattformbetreiber reichen von großen internationalen Unternehmen bis zu kleinen nationalen bzw. lokalen Start-Ups. Nach aktuellen Schätzungen soll es im Jahr 2025 43 Millionen Plattformarbeiter innerhalb der EU geben. Gegenwärtig sind diese weit überwiegend als Selbstständige tätig. Führt man sich diesen Bedeutungszuwachs und die vielfach beschworene mangelnde soziale Sicherung von Solo-Selbstständigen vor Augen, so überrascht es nicht, dass die Europäische Kommission nunmehr mit einem Richtlinienvorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit (COM(2021) 762 final) die Initiative ergreift, um der potenziellen Sprengkraft dieser Entwicklung Herr zu werden.

Bei der veröffentlichten Initiative der Europäischen Kommission handelt es sich zwar (noch) nur um einen Vorschlag. Dieser verdient aber schon jetzt einer intensiven Betrachtung. Denn die Veröffentlichung des Vorschlages markiert den Beginn des Gesetzgebungsverfahrens und aufgrund weitreichender Übereinstimmungen mit den Bestrebungen des Eckpunktepapiers des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales („Faire Arbeit in der Plattformökonomie“) ist gegenwärtig davon auszugehen, dass die Umsetzung der letztendlich beschlossenen Regelungen in nationales Recht nicht lange auf sich warten lassen wird.

Es lohnt sich daher, den Richtlinienvorschlag und seine Entwicklung genau im Blick zu behalten, um nicht von Umsetzungsschwierigkeiten überrascht zu werden.

I. Ziele des Richtlinienvorschlages

Der am 09.12.2021 veröffentlichte Richtlinienvorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit soll nach dem Willen der Kommission durch das Setzen von Mindeststandards dazu beitragen, dass Plattformarbeiter in der EU künftig besser sozial abgesichert sind und ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden.

Der Vorschlag zielt im Wesentlichen darauf ab:

    • den Beschäftigungsstatus von Plattformarbeitern anhand eines vorgegebenen Kriterienkataloges zu bestimmen und ihnen dadurch Zugang zu Arbeitnehmerrechten wie Mindestlohn, Tarifverhandlungen, geregelten Arbeitszeiten und Gesundheitsschutz oder bezahltem Urlaub, aber auch Sozialleistungen wie Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit sowie Altersrenten zu gewähren;

    • mehr Transparenz, Rechte und Pflichten in Bezug auf das „algorithmische Management“ zu schaffen, etwa indem obligatorische Informationen über eine automatisierte Überwachung und Auswertung der Arbeitsleistung vorgesehen sind, die Parameter einer algorithmenbasierten Entscheidungsfindung zumindest teilweise offenzulegen sind, und solche Entscheidungen kontrolliert und angefochten werden können;

    • die Durchsetzung und Rückverfolgbarkeit bei der Plattformarbeit – auch in grenzüberschreitenden Situationen – zu verbessern, indem die Plattformen aufgefordert werden, die Tätigkeit in dem Land anzumelden, in dem sie erbracht wird;

    • Tarifverhandlungen und den sozialen Dialog zu stärken.

II. Welche Formen der Plattformarbeit sollen der Richtlinie unterfallen?

Gemäß Artikel 2 Abs. 1 liegt Plattformarbeit vor, wenn (i) eine natürliche oder juristische Person kommerzielle Dienstleistungen anbietet und (ii) die folgende Kriterien erfüllt sind:

    • die Dienstleistung wird zumindest teilweise aus der Ferne auf elektronischem Wege angeboten, etwa über eine Homepage oder eine App;

    • die Dienstleistung wird auf Anforderung eines Leistungsempfängers erbracht;

    • als notwendiger und wesentlicher Bestandteil muss die Arbeit, die von Einzelpersonen geleistet wird, mittels der Plattform organisiert werden. Dies gilt unabhängig davon, ob die Tätigkeit online oder an einem bestimmten Ort ausgeübt wird.

Die weite Formulierung macht deutlich, dass eben nicht nur typischerweise technikaffine Tätigkeitsbereiche wie der IT-Sektor vom Anwendungsbereich erfasst sein können, sondern auch z.B. klassisch handwerkliche Tätigkeiten. Nicht erfasst werden dagegen Plattformen, die lediglich Angebot und Nachfrage nach Dienstleistungen auflisten oder verfügbare Diensteanbieter in einem bestimmten Bereich anzeigen. Spannend dürfte in diesem Zusammenhang die Frage sein, ob Formen des direkten Crowdworkings vom Anwendungsbereich erfasst werden. Nach dem aktuellen Entwurf sprechen gute Gründe dagegen.

III. Was sind die Hauptbestandteile der vorgeschlagenen Richtlinie?

    • Es soll anhand eines Kriterienkataloges festgestellt werden, ob die Plattform die Kontrolle über eine Person ausübt. Werden zwei von fünf Kriterien des Kataloges erfüllt, so gilt die rechtswirksame, aber widerlegbare Vermutung, dass es sich bei der rechtlichen Beziehung zwischen Plattform und tätiger Person um ein Arbeitsverhältnis handelt.

    • Den Plattformarbeitern und ihren Vertretungen sollen spezielle Rechte eingeräumt werden, die es ihnen ermöglichen, Informationen zu erlangen, die dem „algorithmischen Management“ der Plattform unterliegen. Hierdurch soll nachvollziehbar und kontrollierbar werden, wie die Arbeit und die Aufträge zugewiesen, bewertet oder beendet und wie ggf. Anreize geschaffen werden. Die Fachkräfte sollen in diesem Zusammenhang das Recht erhalten, eine Begründung einer algorithmenbasiert getroffenen Entscheidung von einer reellen Person zu erhalten sowie die Möglichkeit zur Anfechtung und Berichtigung der Entscheidung haben.

      Ähnliche Rechte sind bereits aus dem Datenschutzrecht bekannt: Ausschließlich auf eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten (einschließlich Profiling) gestützte Entscheidungen, die für die betroffene Person eine rechtliche oder vergleichbare Wirkung entfalten, sind grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise zulässig; zudem muss ein Mindestmaß an Transparenz gewährleistet sein, etwa durch eine Information über die involvierte Berechnungslogik und die Entscheidungsparameter (Art. 22, Art. 13 und 14 DS-GVO). Der neue Vorschlag konkretisiert diese Vorgaben für die Plattformarbeit und erweitert sie. Insbesondere adressiert er – anders als Art. 22 DS-GVO – für bestimmte Entscheidungen auch die in der Praxis so wichtigen algorithmenbasierten Entscheidungsvorbereitungen (Art. 6 im Entwurf: „automated decision-making systems which are used to take or support decisions […]“).
    • Die Plattformen müssen die Tätigkeit in dem Land anmelden, in dem sie erbracht wird, und den nationalen Behörden Informationen über die Plattformarbeiter und ihre Geschäftsbedingungen zur Verfügung stellen.

    • Interessenvertretern soll die Geltendmachung der Ansprüche mehrere Personen ermöglicht werden, wodurch sich die Plattformbetreiber mit Sammelklagen konfrontiert sehen dürften.

IV. Kriterien für die Vermutung eines Arbeitsverhältnisses und Widerlegbarkeit dieser Vermutung

Zentraler Bestandteil des Richtlinienvorschlages ist die vorgesehene widerlegbare Vermutung eines Arbeitsverhältnisses für den Fall, dass zwei der fünf folgenden Kriterien erfüllt werden (Artikel 4 Abs. 2):

    • Festlegung der Höhe der Vergütung bzw. von Obergrenzen der Vergütung;

    • Überwachung der Ausführung der Arbeit auf elektronischem Wege;

    • Einschränkung der Möglichkeiten, Arbeits- oder Abwesenheitszeiten frei zu wählen, Aufgaben anzunehmen oder abzulehnen oder Unterauftragnehmer oder Ersatzkräfte in Anspruch zu nehmen;

    • Festlegung bestimmter verbindlicher Regeln in Bezug auf Erscheinungsbild und Verhalten gegenüber dem Empfänger der Dienstleistung bzw. in Bezug auf die Arbeitsleistung;

    • Einschränkung der Möglichkeit, einen Kundenstamm aufzubauen oder Arbeiten für Dritte auszuführen.

In Abweichung von bisher geltenden Grundsätzen soll der Gegenstand der Betrachtung dabei in Zukunft nicht die Tätigkeit des einzelnen Plattformarbeiters, sondern die Plattform selbst sein. Erfüllt die Plattform zwei der Kriterien, so wird vermutet, dass ein hinreichendes Maß an Kontrolle ausgeübt wird und daher ein Arbeitsverhältnis vorliegt. In Übereinstimmung wiederum mit den auch bisher geltenden Grundsätzen (§ 611a Abs. 1 S. 6 BGB; § 12 Abs. 1 S. 2 AÜG) ist im Rahmen dieser Beurteilung nicht entscheidend, was im Vertrag definiert ist. Maßgeblich ist die bestehende Faktenlage, also die tatsächliche Durchführung der Tätigkeit.

Mit Spannung wird zu erwarten sein, wie der nationale Gesetzgeber diese doch sehr vagen Kriterien in praxistauglich handhabbare Formen zu gießen gedenkt. Hoffnung auf eine merkliche Relativierung dürfte nicht bestehen, bedenkt man, dass der Vorschlag deckungsgleich mit dem oben bereits angesprochenen Eckpunktepapier des BMAS ist. Darin heißt es u.a., man wolle eine Beweisverlagerung bei Prozessen zur Klärung des Arbeitnehmerstatus einführen und so die Hemmschwelle für Plattformarbeitnehmer senken, ihre Rechte geltend zu machen.

Einen nach heutiger Einschätzung wenig praxistauglichen Ausweg bietet der Richtlinienvorschlag in Artikel 5, mit der Vorgabe an die Mitgliedstaaten, dass diese die Möglichkeit zur Widerlegung der Vermutung eröffnen müssen. Dazu ist erforderlich, dass die Plattform oder die betroffene Person im Einzelfall nachweist, dass es sich nicht um ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis im Sinne der nationalen Definitionen handelt. Praktisch dürften sich damit in der überwiegenden Zahl der Fälle die Plattformen mit einer hohen Beweislast konfrontiert sehen. In anderen Fällen treffen sie Mitwirkungspflichten.

V. Fazit

Der Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission darf durchaus als Frontalangriff auf die Plattformökonomie in ihrer derzeit bestehenden Form bezeichnet werden. Mit der Fiktion von Arbeitsverhältnissen, den Informations- und Offenlegungspflichten bzgl. der verwendeten Algorithmen sowie der Stärkung der organisierten Vertretung von Selbstständigen enthält der Vorschlag einige tiefgreifende Neuerungen. Abzuwarten bleibt insbesondere auch, wie sich die im Richtlinienvorschlag enthaltenen Kriterien auf die bestehenden Abgrenzungskriterien zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung und deren Gewichtung untereinander auswirken werden. Dies führt dazu, dass nicht nur potenziell unmittelbar Betroffene das (supra-)nationale Gesetzgebungsverfahren genaustens im Blick behalten und bereits früh mit der Prüfung möglicher Auswirkungen auf (geplantes) Geschäft beginnen sollten. Ebenfalls wird spannend sein, wie die im Richtlinienvorschlag vorgesehenen Regelungen zur Transparenz des „algorithmischen Managements“ Eingang in nationales Recht finden und sich – auch mit Blick auf die Rechtsdurchsetzung – in das bestehende Regelungsgefüge (etwa der DS-GVO) einordnen werden.

Wir jedenfalls werden diese Entwicklungen für Sie genaustens beobachten und Sie auf dieser „Plattform“ auf dem Laufenden halten.