Die Auswirkungen des Angriffs Russlands auf die Ukraine treffen den deutschen Arbeitsmarkt
Infolge des Kriegs in der Ukraine kommt es in Deutschland bei ersten Arbeitgebern bereits zu Lieferengpässen und Produktionsausfällen. Aber auch Auftragswegfälle infolge der gegen Russland umfangreich verhängten Sanktionen können Unternehmen mit der Folge treffen, dass personelle Ressourcen nicht ausreichend ausgelastet werden können. Betroffene Unternehmen sollten daher prüfen, welche (kurzfristigen) Handlungsmöglichkeiten sie haben, um die Kosten eines (vorübergehenden) Personalüberhangs zu reduzieren um so ihre wirtschaftliche Tragfähigkeit langfristig zu erhalten.
1. Grundsatz: Das Betriebsrisiko trifft den Arbeitgeber
Grundsätzlich trifft den Arbeitgeber das Risiko eines Arbeitsausfalls (das sog. „Betriebsrisiko“, § 615 Satz 3 BGB). Das heißt: Kann der Arbeitgeber etwa wegen Lieferengpässen seine eigene Produktion nicht aufrecht erhalten, muss der Arbeitgeber die mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vereinbarte Vergütung grundsätzlich weiter zahlen. Ausgefallene Arbeitszeit muss dabei im Grundsatz nicht nachgearbeitet werden.
Von diesem Betriebsrisiko werden einerseits alle betriebsinternen Störungen erfasst, die auf ein Versagen der sachlichen oder persönlichen Mittel des Betriebs und damit auf die Organisationshoheit des Arbeitgebers zurückzuführen sind, wie z. B. der Ausfall der IT-Infrastruktur. Über diese betriebsinternen Störungen hinaus trägt der Arbeitgeber grundsätzlich auch das Risiko für von außen auf das Unternehmen einwirkende Umstände, die sich als höhere Gewalt darstellen, wie z. B. die Überschwemmung eines Fabrikgebäudes aufgrund einer Naturkatastrophe, die Zerstörung der Betriebseinrichtungen durch Brand oder den Stromausfall infolge einer Störung im Elektrizitätswerk.
Jüngst hat das Bundesarbeitsgericht (Urt. v. 13.10.2021, 5 AZR 211/21) entschieden, dass ein Arbeitgeber, der seinen Betrieb aufgrund eines staatlich angeordneten „Lockdowns“ vorübergehend schließen muss, nicht das wirtschaftliche Risiko des Arbeitsausfalls trägt (wir berichteten). Argumentiert wurde damit, dass der „Lockdown“ gleichermaßen für alle am Wirtschaftsleben Beteiligten galt und damit dem allgemeinen Lebensrisiko, nicht hingegen einem spezifischen Betriebsrisiko des einzelnen Arbeitgebers zuzurechnen sei. Die Ursache der „Betriebsstörung“ liegt dann – so das Bundesarbeitsgericht – vielmehr in einer hoheitlichen Maßnahme, die die zuständigen staatlichen Stellen zur Bekämpfung der Pandemie für erforderlich halten.
Es sprechen gute Gründe dafür, dass diese Rechtsprechung auch auf den Fall zu übertragen ist, dass ein Arbeitgeber seinen Betrieb aufgrund einer Sanktion gegen Russland schließen muss:
- Der Arbeitgeber trägt nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn staatliche Sanktionen gegen Russland unmittelbar eine Betriebsschließung bedeuten. Denn die so behördlich verfügte Betriebsschließung erfolgt im Rahmen allgemeiner Maßnahmen staatlicher Stellen zur Sanktionierung Russlands.
- In einem solchen Fall realisiert sich gerade nicht ein in einem bestimmten Betrieb aufgrund seiner konkreten Produktions- und Arbeitsbedingungen – dem Betriebssubstrat – angelegtes Risiko. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung ist vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Einwirkung auf Russland, die der einzelne Arbeitgeber nicht – auch nicht im weitesten Sinne – verursacht und zu verantworten hat.
- Es sprechen gute Gründe dafür, dass der Arbeitgeber dieses „allgemeine Risiko“, das Folge letztlich politischer Entscheidungen zur Einwirkung auf Russland ist, nicht zu tragen hat.
Vor diesem Hintergrund ist es dann schließlich Sache des Staates, gegebenenfalls für einen angemessenen Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile zu sorgen.
Bloße Lieferengpässe als mittelbare Folge von Sanktionen hingegen sind weiterhin dem Betriebsrisiko des Arbeitgebers zuzuordnen, da eine daraus resultierende Betriebsschließung nicht unmittelbare Folge eines hoheitlichen Eingriffs ist. Denn Lieferengpässe, mit denen Arbeitgeber derzeit konfrontiert sind, verpflichten Arbeitgeber freilich (rechtlich) nicht, ihren Betrieb zu schließen. Dasselbe gilt, wenn sich der Arbeitgeber aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine dazu entschließt, seine Geschäftstätigkeit mit Russland zu beenden – in diesem Fall trifft der Arbeitgeber selbst die Entscheidung, die zur Unmöglichkeit der Arbeitsleistung führt.
Einzelheiten, insbesondere die sich stellenden Abgrenzungsfragen, wird die Rechtsprechung klären.
2. Reaktionsmöglichkeiten von Unternehmen
Eins ist insofern aber klar: Auch wenn den Arbeitgeber das Betriebsrisiko nicht trifft, ist er aufgrund seiner Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB gegenüber seinen Beschäftigten verpflichtet, solche Maßnahme zu ergreifen, die etwaige finanzielle Nachteile der Beschäftigten ausgleichen, z. B. die Beantragung von Kurzarbeitergeld. Angesichts der weitreichenden organisatorischen und finanziellen Folgen sind Unternehmen also gut beraten, potentielle Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse bereits jetzt aktiv zu gestalten und Risiken hierdurch zu minimieren.
In Betracht kommen insb. folgende Maßnahmen:
(a) Nutzung von Arbeitszeitkonten
Arbeitszeitkonten tragen erheblich zur Flexibilisierung der Arbeitszeit bei. Durch die Ermöglichung, in einem gewissen Umfang Plus- bzw. Minusstunden aufzubauen, kann Auslastungsproblemen durch Schwankungen in der Auftragslage entgegengewirkt werden. Ziel sollte es sein, dass Arbeitskraft genau dann zur Verfügung steht, wenn sie benötigt wird. Annahmeverzugsrisiken werden dabei durch die Möglichkeit des Aufbaus von Minus-Stunden reduziert. Arbeitszeitkonten werden häufig durch tarifvertragliche Regelungen oder Betriebsvereinbarungen eingeführt, aber auch einzelvertragliche Regelungen sind denkbar.
(b) Anordnung von Betriebsferien
In Fällen, in denen beispielsweise eine Produktion kurzfristig vollständig zum Erliegen kommt, kann auch die Anordnung von Betriebsferien eine sinnvolle Maßnahme sein, da die Urlaubsansprüche der Mitarbeiter zu einem Zeitpunkt abgebaut werden, zu dem sie ohnehin nicht beschäftigt werden können. Auch insoweit ist in Betrieben mit Betriebsrat das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zu beachten.
(c) Insbesondere: Einführung von Kurzarbeit
Annahmeverzugsrisiken können überdies durch die Einführung von Kurzarbeit effektiv minimiert werden. Kurzarbeit war und ist für viele Unternehmen bereits in der COVID-19-Pandemie ein breit genutztes Instrument, das zu einem vorübergehenden Absenken der betriebsüblichen regelmäßigen Arbeitszeit (ggf. bis „auf Null“) unter gleichzeitiger Reduzierung des Entgelts und Anspruch auf Zahlung von Kurzarbeitergeld durch die Bundesagentur für Arbeit führt.
- Kurzarbeit kann auf Grundlage individualvertraglicher Vereinbarungen (etwa wirksame „Vorratsklausel“ im Arbeitsvertrag oder einer Zusatzvereinbarung) oder kollektivrechtlicher Regelungen, also Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen, angeordnet werden. Die Anordnung von Kurzarbeit allein im Wege des Direktionsrechts ist hingegen ohne entsprechende Grundlage nicht möglich. In diesen Fällen bedarf es des Ausspruchs einer Änderungskündigung.
- Voraussetzung für die Gewährung von Kurzarbeitergeld ist insb. ein erheblicher Arbeitsausfall mit Entgeltausfall (§ 95 S. 1 Nr. 1 SGB III). Besondere Anforderungen stellen die Arbeitsagenturen und Sozialgerichte insoweit insb. an das Vorliegen „von wirtschaftlichen Gründen“ oder eines „unabwendbaren Ereignisses“ sowie die fehlende Vermeidbarkeit von Kurzarbeit (§ 96 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 3 SGB III).
Dabei sprechen gute Gründe dafür, dass die Corona-bedingt herabgesetzten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld nach § 421c SGB III, die jüngst bis zum 30.06.2022 verlängert worden sind, auch im Zusammenhang der Ukraine-Russland Krise herangezogen werden können. Auch wenn der Gesetzgeber die Corona-Pandemie zum Anlass für die Herabsetzung der Voraussetzungen genommen hat, so hat er nach dem klaren Gesetzeswortlaut gerade nicht danach differenziert, aus welchem Grund Kurzarbeitergeld beantragt wird:
- Es reicht demnach aus, wenn mindestens zehn Prozent der Beschäftigten von Arbeitsausfall betroffen sind. Sonst muss mindestens ein Drittel der Beschäftigten betroffen sein.
- Beschäftigte müssen – im Rahmen von Arbeitszeitkonten – auch keine Minusstunden aufbauen, bevor Kurzarbeitergeld gezahlt werden kann.
- Die Beantragung und weitere administrative Abwicklung der Gewährung von Kurzarbeitergeld obliegt weitestgehend dem Arbeitgeber. Hier sind im Wesentlichen zwei Schritte zu beachten:
- Im ersten Schritt hat das Unternehmen den Arbeitsausfall bei der zuständigen Agentur für Arbeit schriftlich anzuzeigen und die Voraussetzungen für den Bezug von Kurzarbeitergeld hinreichend glaubhaft zu machen (§ 99 Abs. 1 SGB III). Die Agentur für Arbeit erteilt sodann unverzüglich einen schriftlichen Bescheid darüber, ob die Gewährungsvoraussetzungen vorliegen (sog. „Anerkennungsbescheid“).
- Im zweiten Schritt muss das Unternehmen für jeden betroffenen Mitarbeiter Kurzarbeitergeld beantragen unter Nachweis der jeweiligen persönlichen Voraussetzungen. Für diesen Antrag ist eine Ausschlussfrist von drei Monaten nach dem jeweiligen Monat, für den Kurzarbeitergeld begehrt wird, zu beachten (§ 325 Abs. 3 SGB III).
- Der Arbeitgeber zahlt an den Arbeitnehmer das verkürzte Entgelt entsprechend der verkürzten Arbeitszeit zzgl. des Kurzarbeitergelds, das von der Arbeitsagentur an den Arbeitgeber zwecks Weiterleitung an den Arbeitnehmer gezahlt wird (kein voller Lohnersatz). Kurzarbeitergeld wird frühestens von dem Kalendermonat an gezahlt, in dem die Anzeige nach § 99 SGB III bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist. Die maximale Bezugsdauer beträgt grundsätzlich 12 Monate. Befristet bis zum 30.06.2022 wurde die maximale Bezugsdauer aber auf 28 Monate verlängert. Damit können betroffene Unternehmen, die auch schon während der Corona-Krise Kurzarbeit in breitem Umfang in Anspruch genommen haben, das Mittel der Kurzarbeit weiter nutzen.
- Die Höhe des Kurzarbeitergelds beträgt grundsätzlich 60 % des ausgefallenen pauschalierten Nettoentgelts. Lebt mindestens ein Kind mit im Haushalt, beträgt das Kurzarbeitergeld 67 % des ausgefallenen pauschalierten Nettoentgelts.
Auch insofern gelten befristet bis zum 30.06.2022 erhöhte Leistungssätze:
- ab dem vierten Bezugsmonat beträgt das Kurzarbeitergeld 70 % und ab dem siebten Bezugsmonat 80 % des ausgefallenen pauschalierten Nettoentgelts,
- lebt mindestens ein Kind mit im Haushalt, beträgt das Kurzarbeitergeld ab dem vierten Bezugsmonat 77 % und ab dem siebten Bezugsmonat 87 % des ausgefallenen pauschalierten Nettoentgelts,
wenn die Differenz zwischen Soll- und Ist-Entgelt im jeweiligen Bezugsmonat mindestens 50 % beträgt. - ab dem vierten Bezugsmonat beträgt das Kurzarbeitergeld 70 % und ab dem siebten Bezugsmonat 80 % des ausgefallenen pauschalierten Nettoentgelts,
- Kurzarbeitergeld wird für jeden Mitarbeiter in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gezahlt. Dies gilt unabhängig von der Höhe seines Gehalts. Sog. Minijobber haben hingegen keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld.
- Die Höhe des Kurzarbeitergelds ist aber gedeckelt: berücksichtigt werden Löhne und Gehälter bis zu einer Höhe von monatlich EUR 7.050 brutto. Darüber liegende Beträge werden für die Berechnung des Kurzarbeitergelds außer Betracht gelassen.
3. Ausblick
Die Auswirkungen des Konflikts in der Ukraine werden deutsche Unternehmen auf unbestimmte Zeit beschäftigen. Die Möglichkeit, Kurzarbeit einzuführen, hat sich bereits in der Pandemie als Instrument bewährt, Schwankungen im Personalbedarf kurzfristig aufzufangen und den Verlust von Fachpersonal zu verhindern. Um bei Bedarf kurzfristig reagieren zu können, ist es angezeigt, ggf. auch vorbeugend Maßnahmen zu ergreifen, die die rechtssichere Einführung von Kurzarbeit ermöglichen. Zu denken sind hierbei insbesondere an vertragliche Regelungen beziehungsweise, soweit ein Betriebsrat existiert, der Abschluss dahingehender Betriebsvereinbarungen. Die rechtliche Belastbarkeit der Regelungen zu Kurzarbeit im Betrieb ist dabei von essentieller Bedeutung. Denn fehlt es im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einer rechtlich tragfähigen Regelung, führt dies dazu, dass über den Zeitraum der Kurzarbeit Annahmeverzugslohnansprüche entstehen können und die Agentur für Arbeit etwaig zu Unrecht gezahltes Kurzarbeitergeld zurückfordert. Dies gilt es durch entsprechende Gestaltung zu vermeiden.
Langfristige Veränderungen im geschäftlichen Umfeld hingegen können vor allem durch umfassende Maßnahmen, insbesondere Restrukturierungen aufgefangen werden und können durch die Nutzung der zur Verfügung stehenden Instrumente, insbesondere Kurzarbeit, ggf. auch vermieden werden.
Weitere Informationen finden Sie auch in unserem Ukraine-Russia Crisis Center