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Arbeitszeitrecht: Kommt die elektronische Zeiterfassung für alle durch die Hintertür?

21.02.2022

„Jeder Mensch macht Fehler. Das Kunststück liegt darin, sie dann zu machen, wenn keiner zuschaut.“ Verfolgt man die jüngere Rechtssetzung durch das BMAS kann man den Eindruck gewinnen, das BMAS teste dieses Bonmot von Peter Ustinov strategisch, in dem für Arbeitgeber und Arbeitnehmer einschneidende Rechtsänderungen – nicht fehlerfrei – unbemerkt von der Öffentlichkeit – nämlich versteckt unter „falscher Flagge“ – auf den Weg gebracht und durchgesetzt werden: So wie im vergangenen Herbst die Besondere Gebührenverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMASBGebV) die obligatorische Durchführung von Betriebsprüfungen in einem deutlich verkürztem Turnus bei Inhabern einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis zementierte [News vom 16.02.2022], sieht der jüngst bekannt gewordene Referentenentwurf des BMAS zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung einschneidende Änderungen im Bereich des Arbeitszeitrechtes vor – und zwar weder begrenzt auf geringfügig Beschäftigte noch auf einzelne Branchen.

Änderungen des Arbeitszeitrechtes

Der zur Umsetzung der Vorgaben zum Mindestlohn und Mini- bzw. Midi-Jobs im Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vorgelegte Referentenentwurf des BMAS (d. h. ein Entwurf, der von der Bundesregierung noch beschlossen werden muss) geht – zu Überraschung vieler – über die im Koalitionsvertrag hierzu angelegten Änderungen weit hinaus. Er sieht „Maßnahmen zur verbesserten Durchsetzung des Arbeitsrechts bei Minijobs“ vor, bleibt aber keineswegs bei Minijobs stehen:

    • Die nach § 17 MiLoG bestehende Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung soll modifiziert werden. Entsprechend der bisherigen Regelung in § 6 Absatz 1 des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch), sollen Arbeitgeber künftig dazu verpflichtet sein, Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen und elektronisch aufzubewahren.

    • Diese Änderungen im Bereich des MiLoG sollen entsprechend im Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) und im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) nachgezeichnet werden. Die bisherige Regelung im GSA Fleisch würde dadurch obsolet und soll daher aufgehoben werden.

In den Bereichen des MiLoG und des AEntG mag dieser Anspruch des Referentenentwurfes stimmen, nicht aber für den Bereich des AÜG. Nach der jetzigen Entwurfsfassung trifft die besondere Arbeitgeberverpflichtung, den Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen und elektronisch aufzubewahren, den Entleiher. Dies mag systematisch noch überzeugen, denn schließlich werden dort die Leiharbeitnehmer – zumindest in Verleihzeiten – ja auch tätig. Indes trifft diese Verpflichtung jeden Entleiher -unabhängig von der Branche oder von der Vergütungshöhe. Alle Entleiher müssten also – allein für die von ihnen eingesetzten Leiharbeitnehmer – ein eigenständiges, von der Stammbelegschaft abweichendes Zeiterfassungssystem einführen.

    • Anknüpfend an die modifizierten Pflichten zur Arbeitszeitaufzeichnung nach dem MiLoG, AEntG und AÜG soll in der Gewerbeordnung (GewO) ein weitere Verpflichtung des Arbeitgebers eingeführt werden: Der Arbeitgeber soll verpflichtet werden, dem Arbeitnehmer nach Ablauf eines Abrechnungszeitraums (im Zweifel also einem Kalendermonat) die erstellten Arbeitszeitaufzeichnungen in Textform zu übersenden.

Befremdlich ist hier mit Blick auf das AÜG, dass der Entwurf im Zusammenhang mit der Änderung der Gewerbeordnung nur noch vom Arbeitgeber spricht: „Ist der Arbeitgeber zum Erstellen von Dokumenten nach [……]  § 17c Absatz 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes verpflichtet, hat er dem Arbeitnehmer nach Ablauf des Abrechnungszeitraums die Arbeitszeitaufzeichnungen in Textform zu übersenden.“ Nach § 17c Absatz 1 AÜG ist aber nicht der Arbeitgeber, sondern der Entleiher zum Erstellen der Arbeitszeitaufzeichnungen verpflichtet. Soll nun der Entleiher den bei ihm eingesetzten Leiharbeitnehmern die Arbeitszeitaufzeichnungen in Textform übersenden? Eine Aussage dazu trifft der Entwurf genauso wenig wie zu etwaigen Informations- oder Kooperationsverpflichtung zwischen Verleiher und Entleiher.

    • Daneben soll der Arbeitgeber verpflichtet werden, künftig im Zuge der Entgeltabrechnung über die Höhe des auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Mindestlohns nach dem MiLoG, AEntG oder AÜG zu informieren. Das dürfte unproblematisch sein. Denn diese Möglichkeiten bieten bereits jetzt einige, der verbreiteten Gehaltsabrechnungssysteme an.

Bewertung für die Praxis

Ob die Einführung einer verpflichtenden elektronischen und manipulationssicheren Zeiterfassung für Minijobs kommt, bleibt abzuwarten. Zu Recht werden gegen eine solche Verpflichtung Bedenken erhoben:

    • Durch die vollständige Übernahme der Arbeitszeitregelungen auch für den Bereich des AÜG wird die Verpflichtung zur elektronischen und manipulationssicheren Aufzeichnung von Arbeitszeiten und deren elektronischen Aufbewahrung faktisch branchenübergreifend und unabhängig von der Größe des Unternehmens in Deutschland eingeführt.

    • Das werden aber nicht alle Unternehmen sinnvoll stemmen können. Eine elektronische Zeiterfassung setzt schließlich entsprechendes technisches Equipment voraus, das bislang nicht benötigt wurde. Gerade bei ortsungebundenen Tätigkeiten müssten Arbeitgeber und Entleiher allein wegen einer elektronischen Zeiterfassung geringfügig Beschäftigte und Leiharbeitnehmer mit entsprechenden Geräten ausstatten. Der Investitionsbedarf wäre beträchtlich.

    • Dabei wäre aber im Ergebnis aber nicht einmal sichergestellt, dass der Arbeitgeber oder Entleiher – wie es der Referentenentwurf vorsieht – die Arbeitszeit aufzeichnet. Zu der Frage, ob der Arbeitgeber oder der Entleiher die Aufzeichnung an seine Mitarbeiter oder seine Leiharbeitnehmer delegieren darf, verhält sich der der Referentenentwurf nicht. Die praktische Umsetzung erscheint mehr als fragwürdig. Dass eine elektronische Zeiterfassung „dem Bürokratieabbau durch Digitalisierung“ dienen kann – wie es der Referentenentwurf meint –, darf ebenfalls bezweifelt werden.

    • Schließlich lässt der Referentenentwurf offen, wie eine elektronische Zeiterfassung in einem mitbestimmten Betrieb eingeführt werden soll. Es träfe die gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers mit den Mitbestimmungsrechten eines Betriebsrats aus § 87 Absatz 1 Nummer 6 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) aufeinander.

    • Der Referentenentwurf geht – ohne Not – über das hinaus, was der Europäische Gerichtshof (EuGH) vorschreibt: Die Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18) verpflichtet die Mitgliedsstaaten zwar zur Einführung einer entsprechende Arbeitszeit-Dokumentation. Dem EuGH genügt aber eine Dokumentation in Papierform, wenn sie objektiv, verlässlich und zugänglich ausgestaltet ist. Dies erscheint gerade im Bereich von geringfügig Beschäftigten praxistauglicher.

Umsetzung des Koalitionsvertrages im Bereich der geringfügigen Beschäftigung

Nah an den Vorgaben des Koalitionsvertrag halten sich die Umsetzungsvorschläge des BMAS im Übrigen:

    • Die Regierungskoalition hatte sich darauf verständigt, den Mindestlohn kraft Gesetzes – ohne Einbindung der Mindestlohnkommission – einmalig auf 12,00 Euro pro Stunde anzupassen.

    • Gleichzeitig soll laut Koalitionsvertrag die Grenze der Entgeltgeringfügigkeit (sog. Minijobs, § 8 Absatz 1 Nummer 1 des Sozialgesetzbuch Viertes Buch – SGB IV) von derzeit 450,00 Euro auf 520,00 Euro angehoben werden. Ziel sei es, dass sich die Grenze der Entgeltgeringfügigkeit künftig an einer Wochenarbeitszeit von 10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen orientiert.

    • Auch für sog. Midijobs, d. h. Beschäftigungsverhältnisse mit einer Vergütung derzeit zwischen 450,01 Euro und 1.300,00 Euro pro Monat sieht der Koalitionsvertrag eine Erhöhung vor und zwar auf 1.600,00 Euro (Koalitionsvertrag Seite 69 f.).

Der Referentenentwurf sieht dazu folgende Eckpunkte vor:

    • Eine starre Geringfügigkeitsgrenze soll es künftig nicht mehr geben. Vielmehr soll die Grenze so definiert werden, dass sie einer Wochenarbeitszeit von 10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen entspricht. Mit Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12,00 Euro pro Stunde soll die Grenze somit erst einmal bei 520,00 Euro monatlich liegen.

    • Zudem soll die Möglichkeit eines zulässigen „gelegentlichen und unvorhergesehenen Überschreitens“ der Entgeltgrenze für eine geringfügig entlohnte Beschäftigung begrenzt werden. Wurde bislang ein Zeitraum von bis zu drei Monaten innerhalb eines Zeitjahres als „gelegentlich“ angesehen, soll dies künftig auf maximal zwei Monate innerhalb eines Zeitjahres beschränkt werden. Auch unter Berücksichtigung eines nur gelegentlichen und unvorhergesehenen Überschreitens soll eine Vergütung, die 7.280,00 Euro übersteigt, in jedem Fall zu einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung führen.

    • Personen, die bislang über der Geringfügigkeitsgrenze von 450,00 Euro und damit sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren (insb. im Rahmen eines Midijobs), sollen für eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2023 auch dann sozialversicherungspflichtig bleiben, wenn sie durch die Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze nunmehr versicherungsfrei beschäftigt würden, weil sie als Inhaber/in eines Minijobs zu qualifizieren wären.

    • Die Höchstgrenze für eine Beschäftigung im Übergangsbereich (Midijob) soll von monatlich 1.300,00 Euro auf 1.600,00 Euro angehoben werden.

Fazit und Ausblick

Die Erhöhung sowohl des Mindestlohnes als auch der entsprechenden Grenzen im Bereich von Minijobs und Midijobs zeichnet sich nun konkret ab. Es ist zu erwarten, dass die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12,00 Euro pro Stunde bereits in diesem Jahr – voraussichtlich zum 1. Oktober – in Kraft treten wird. Die Erhöhung wird bei Arbeitgebern eine Anpassung bestehender Beschäftigungsverhältnisse bedeuten, wenn Arbeitnehmer durch die Erhöhung des Mindestlohnes aus dem Bereich der Entgeltgeringfügigkeit fallen.

Abzuwarten bleibt dagegen, wie das BMAS auf die berechtigten Bedenken gegen die Einführung einer elektronischen und manipulationssicheren Zeiterfassung reagieren wird. Arbeitgeber aller Branchen sollten sich aber – gerade auch in mitbestimmten Betrieben – schon jetzt auf eine etwaigen Einführung und die Beteiligung des Betriebsrats vorbereiten und abwägen, ob sie dergleichen Systeme dann nicht auch gleich für alle Beschäftigten ihres Unternehmens einführen. Dann aber hätte das BMAS – ggf. durch die Hintertür – faktisch die Änderung des Arbeitszeitrechtes erreicht.