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Europäische Sammelklage kommt

25.06.2020

Am 22.06.2020 haben die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäische Rat ihren informellen Trilog abgeschlossen und sich auf die Einführung einer Europäischen Verbandsklage geeinigt, deren Anwendungsbereich deutlich weiter reicht, als die erst im November 2018 eingeführte zivilprozessuale Musterfeststellungsklage gemäß § 606 ZPO. Nachfolgend geben wir einen Überblick über die vom Europäischen Parlament bisher in einer Pressemitteilung verlautbarten Details der neuen Kollektivklage.

1. Anwendung in zahlreichen Rechtsgebieten

Der Anwendungsbereich der neuen Kollektivklage umfasst neben allgemeinen Verbraucherrechten auch Verstöße in Bereichen wie Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reisen und Tourismus, Energie, Telekommunikation, Umwelt und Gesundheit sowie Rechte von Flug- und Bahnreisenden. Mit diesem gegenüber dem Kommissionsentwurf deutlich erweiterten Anwendungsbereich hat das Europäische Parlament sich mit seinem Ziel durchgesetzt, ein europaweit verfügbares und in wesentlichen Rechtsgebieten geltendes Instrument des kollektiven Rechtsschutzes zu schaffen.

2. Klagen nur durch qualifizierte Einrichtungen zum Schutz von Verbraucherrechten

Ebenso wie die Musterfeststellungsklage ist auch die Europäische Verbandsklage als Instrument zur Durchsetzung von Verbraucherrechten konzipiert – Unternehmen können von der Klage also keinen Gebrauch machen, sondern nur verklagt werden. Klagepartei sind dabei nicht die Verbraucher, sondern sogenannte qualifizierte Einrichtungen. Ergeht ein klagestattgebendes Urteil, entfaltet dieses über den einzelnen Verbraucher hinaus Bindungswirkung.

Die neue Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, eine qualifizierte Stelle (eine Organisation oder eine öffentliche Einrichtung) zu benennen, die befugt ist und finanziell unterstützt wird, Unterlassungs- und Rechtsschutzklagen im Namen von Verbrauchergruppen einzuleiten und den Zugang der Verbraucher zum Recht zu gewährleisten. In Deutschland ist damit zu rechnen, dass die Wahl auf eine Verbraucherzentrale fallen wird.

3. Regelungen zum Schutz vor Klagemissbrauch

Uneinigkeit bestand zwischen den beteiligten Akteuren bis zuletzt über die Ausgestaltung der Vorschriften zum Schutz der beklagten Unternehmen vor missbräuchlichen Klagen. Die Entwürfe der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rats unterschieden sich in diesem Punkt besonders stark (vgl. dazu Lühmann, NJW 2019, 570). Die Pressemitteilung des Europäischen Parlaments deutet darauf hin, dass sich der Ansatz des Europäischen Parlaments durchgesetzt hat, der zum Schutz von Unternehmen besondere Anforderungen an die Errichtung und Finanzierung von qualifizierten Einrichtungen stellt.

Bei (in der Praxis bisher kaum relevanten) grenzüberschreitenden Fällen muss eine qualifizierte Einrichtung eine Reihe harmonisierter Kriterien erfüllen. So ist Voraussetzung für die Ernennung als qualifizierte Einrichtung eine zwölfmonatige Tätigkeit zum Schutz der Verbraucherinteressen. Die Einrichtung muss zudem einen gemeinnützigen Charakter haben und sicherstellen, dass sie unabhängig von Dritten ist, deren wirtschaftliche Interessen dem Verbraucherinteresse entgegenstehen. Für innerstaatliche Klagen müssen die Mitgliedstaaten geeignete Kriterien festlegen, die mit den Zielen der Richtlinie in Einklang stehen und die identisch sein können, mit den Anforderungen an grenzüberschreitende Klagen.

Ein weiteres wesentliches Instrument zum Schutz vor einem Missbrauch der Europäischen Verbandsklage ist der Grundsatz, dass die qualifizierte Einrichtung bei einer erfolglosen Klage die Kosten des beklagten Unternehmens trägt.

Schließlich müssen Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass offensichtlich unbegründete Fälle zum frühestmöglichen Zeitpunkt des Verfahrens in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht abgewiesen werden können. Durch diese auf den Vorschlag des Europäischen Parlaments zurückgehende Regelung sollen die Kosten und eine ungerechtfertigte Rufschädigung des beklagten Unternehmens möglichst gering gehalten sowie Verbandsklagen beschleunigt und der Verbraucherschutz gestärkt werden. Ob es hier tatsächlich um eine Prüfung der Begründetheit und nicht lediglich der Zulässigkeit (insbesondere mit Blick auf die Anforderungen an qualifizierte Einrichtungen) geht (vgl. Lühmann, NJW 2019, 570, 573) kann erst beurteilt werden, wenn der Richtlinientext vorliegt.

4. Klagen auf Abhilfe

Ein Kernstück der Europäischen Verbandsklage sollte stets sein, dass diese – anders als die Musterfeststellungsklage – im Grundsatz auch auf die Beseitigung fortdauernder Auswirkungen gerichtet und als Leistungsklagen ausgestaltet sein müssen (sog. Klagen auf Abhilfe). Erwogen wurden insbesondere Klagen auf Entschädigungs-, Reparatur- oder Schadensersatzleistungen. Obgleich sich hierzu in der Pressemitteilung des Europäischen Parlaments keine Aussage findet, ist angesichts der verschiedenen Standpunkte zu Beginn des informellen Trilogs davon auszugehen, dass sich an diesem Klageziel nichts geändert hat. Die genaue Ausgestaltung der Verpflichtung der Mitgliedstaaten bleibt jedoch abzuwarten.

Zum jetzigen Zeitpunkt offen ist, wie auf Schadensersatz gerichtete Kollektivklagen in Einklang zu bringen sind mit den Grundsätzen des deutschen Schadensrechts, das eine pauschalierende Betrachtung, wie sie für Kollektivverfahren notwendig wäre, nicht kennt. Eine Pflicht zur Anpassung des materiellen Rechts wird der Richtlinie aber wohl nicht zu entnehmen sein (dazu Lühmann, NJW 2019, 570, 572).

5. Offene Fragen

Da der Text der geplanten Richtlinie noch nicht veröffentlicht ist, bleiben wichtige Fragen der inhaltlichen Ausgestaltung der Europäischen Verbandsklage noch offen. Dazu gehört neben der bereits angesprochenen Frage, unter welchen Voraussetzungen Mitgliedstaaten Klagen auf Abhilfe zulassen müssen, auch die Frage, ob und in welchem Umfang Mitgliedstaaten ein Verbrauchermandat verlangen müssen und in welchem Umfang ein klagestattgebendes Urteil Verbraucher damit bindet. Offen ist zudem, ob – wie im Entwurf des Europäischen Parlaments vorgeschlagen – tatsächlich beabsichtigt ist, qualifizierten Einrichtungen ein (nach dem Verständnis der deutschen Zivilprozessrechtordnung überflüssiges) Recht auf Vorlage von Beweismitteln einzuräumen, die sich im Besitz des beklagten Unternehmens befinden (dazu Lühmann, NJW 2019, 570, 574).

6. Nächste Schritte
 

Nach der politischen Einigung der beteiligten Akteure müssen das Europäische Parlament als Ganzes sowie der Europäische Rat der finalen Fassung der Richtlinie über die Europäische Sammelklage noch abschließend zustimmen. Die Richtlinie wird dann 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten. Die Mitgliedstaaten haben dann 24 Monate Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, und weitere sechs Monate, um sie anzuwenden.

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