Scheinselbständigkeit: Sozialgericht Frankfurt a.M. hält „Handelsvertreter“ eines Finanzinstitutes für sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
Seit Jahrzehnten ist die Zusammenarbeit mit (vermeintlich) selbständigen Finanzberatern, die im Rahmen von „Handelsvertreterverträgen“ tätig werden, für Banken im Privatkundengeschäft gelebte Praxis. Manche Bank unterhält mehr als 100 Finanzagenturen mit mehr als 1000 Finanzberatern und Millionen von Kunden. Ein großer Vorteil dieses Geschäftsmodells: Statt einer pauschalisierten, sozialversicherungspflichtigen Vergütung zahlen die Banken den Finanzberatern sozialversicherungsfreie Provisionen, die nur dann entstehen, wenn sie für die Bank Geschäfte vermitteln oder in ihrem Namen abschließen. Auch führen sie wegen der vertraglich als selbständig ausgestalteten Tätigkeit ihrer Finanzberater keine Sozialversicherungsbeiträge ab. Dies steht freilich unter dem Vorbehalt, dass es sich bei den Finanzberatern tatsächlich um Selbständige handelt. Hier knüpft das Sozialgericht Frankfurt a.M. an und kommt zur gegenteiligen Entscheidung: Bei dem infragestehenden Finanzberater handele es sich um einen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Sachverhalt
Der Finanzberater war knapp zweieinhalb Jahre für die Bank tätig. Ausweislich des zu Beginn der Tätigkeit geschlossenen „Handelsvertretervertrags“ handelte es sich bei dem Finanzberater um einen Handelsvertreter. Handelsvertreter ist gemäß § 84 Abs. 1 HGB, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer Geschäfte zu vermitteln oder in dessen Namen abzuschließen. Entsprechende Formulierungen fanden sich auch in dem „Handelsvertretervertrag“.
Die Klägerin verpflichtete sich, den Finanzberater nach § 2 Abs. 10 KWG als so genannten vertraglich gebundenen Vermittler bei der BaFin anzuzeigen. Der Finanzberater verpflichtete sich, die Kunden und potentielle Kunden vor Aufnahme der Vermittlungstätigkeit über seinen Status als vertraglich gebundenen Vermittler zu informieren und sie unverzüglich von der Beendigung des Status in Kenntnis zu setzen.
Der Finanzberater verpflichtete sich, der Bank über seine Vertriebsaktivitäten Bericht zu erstatten und sich stets an die jeweils gültigen fachlichen Informationen und Richtlinien der Bank zu halten. Im Kontakt zu Kunden und potentiellen Kunden verpflichtete er sich, die ihm von der Bank zur Verfügung gestellten Briefbögen, Visitenkarten, Begleitzettel und dergleichen zu verwenden. In gleichem Zuge wurden ihm durch die Bank zum Zwecke seiner Vermittlungstätigkeit produktbezogene Werbematerialien und Produktbeschreibungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Der Finanzberater verpflichtete sich, eine bestimmte Berufs-Haftpflichtversicherung mit einer bestimmten Deckungssumme abzuschließen. Jegliche Geschäftstätigkeit musste über ein Konto abgewickelt werden, auf das die Bank hinsichtlich etwaiger Rückforderungsansprüche wegen überzahlter Provisionen uneingeschränkten Zugriff hatte.
Im Rahmen der Durchführung des Vertrags stand es dem Finanzberater frei, Arbeitnehmer zu beschäftigten oder für Dritte tätig zu werden, soweit es sich dabei um keine Konkurrenztätigkeit handelte. Der Finanzberater übernahm ein festgelegtes räumliches Arbeitsgebiet, für das weder Gebiets- noch Kundenschutz bestand. Dem Finanzberater wurden ein Laptop und die entsprechende Software kostenlos zur Verfügung gestellt, wobei der Support durch eine von der Klägerin beauftragte Firma erbracht wurde. Die Tabellen und Bedingungen, die der Provision des Finanzberaters zugrunde lagen, konnten von der Bank einseitig geändert werden, sofern gesetzliche Bestimmungen, amtliche Auflagen oder geschäftspolitische Gründe dies veranlassten.
Der Finanzberater war einer Finanzagentur zugeordnet, wobei der Agenturleiter (der seinerseits mit der Klägerin einen Handelsvertretervertrag geschlossen hatte) an den Provisionen der ihm zugeordneten Finanzberater partizipierte.
Der Finanzberater behauptete, dass er sich an die Öffnungszeiten der Bank gehalten habe und donnerstags wegen Teammeetings sogar früher habe erscheinen müssen. Im Krankheitsfall habe er sich beim Filialleiter der Bank abgemeldet und eine Vertretung aus den Reihen seiner Beraterkollegen, die ebenfalls in der Bankfiliale arbeiteten, organisieren müssen.
Wenige Monate vor Ende seiner Tätigkeit beantragte der Finanzberater bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) die Feststellung, dass er versicherungspflichtig Beschäftigter der Bank sei. Im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens gemäß § 7a SGB IV nahm die DRV-Bund dieselbe Rechtsaufassung ein und traf die entsprechende Feststellung. Mit ihrer Klage beantragte die Bank, die Feststellung der DRV Bund aufzuheben und stattdessen festzustellen, dass der Finanzberater einer selbständigen Tätigkeit nachging.
Entscheidung
Das Sozialgericht Frankfurt a.M. wies die Klage mit Urteil vom 8. März 2021 (S 18 BA 93/18) ab. Der Finanzberater sei nicht Selbständiger, sondern abhängig Beschäftigter gewesen.
In rechtlicher Hinsicht existiert mit § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB – und das schon lange vor Verabschiedung des § 611a BGB – eine Norm zur Abgrenzung zwischen Handelsvertreter und Angestelltem. Handelsvertreter kann demnach nur sein, wer selbständig ist, d. h. wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.
Zur sozialversicherungsrechtlichen Abgrenzung verweist das Gericht auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Eine Beschäftigung setze demnach betriebliche Eingliederung und fachliche Weisungsgebundenheit voraus, wobei sich das Abgrenzungsergebnis nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung richte. Ausgangspunkt sei der Vertragsinhalt. Komme es allerdings zu Abweichungen zwischen Vertragsinhalt und tatsächlicher Durchführung, setze sich Letztere gegenüber Ersterem durch. Mit Verweis auf die Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 29.1.1981 – 12 RK 63/79) führt das Gericht aus, dass für den Handelsvertreter nach diesen Grundsätzen gelte, dass er bei der Gestaltung seiner Tätigkeit auch Weisungen des Unternehmers, für den er tätig ist, unterliegen könne. Diese dürfe aber zur Abgrenzung zum abhängig beschäftigten Handlungsgehilfen gemäß § 59 HGB nicht so stark ausgestaltet sein, dass die unternehmerische Freiheit des Handelsvertreters durch die dadurch bewirkten Einschränkungen in ihrem Kerngehalt beeinträchtigt wird.
Die Indizien für eine selbständige Tätigkeit, bei denen es sich v.a. um die Bezeichnung als Handelsvertreter im Vertrag und die erfolgsbasierte Provisionsvereinbarung handelt, treten in der Gesamtabwägung des Gerichts jedoch zurück. So werde der Indiziengehalt der erfolgsbasierte Provisionsvereinbarung etwa dadurch geschmälert, dass es der Bank möglich war, die Tabellen und Bedingungen, die der Provision des Finanzberaters zugrunde lagen, einseitig zu ändern. Dabei bewertete das Gericht die „geschäftspolitischen Gründe“, wegen denen eine solche Änderung veranlasst werden konnte, als „höchst unbestimmt“. Auch stellte das Gericht fest, dass der Vertragsinhalt durch die tatsächliche Vertragsdurchführung überlagert worden sei, sodass der Finanzberater in den Betrieb der Bank eingegliedert gewesen sei. Dies begründet das Gericht durch die von der Bank geschaffenen Strukturen und Hierarchien („Berichts- und Rechenschaftskaskade“), die im Ergebnis zur Folge hätten, dass die Finanzberater in den Agenturen mittelbar die fachlichen Weisungen des Regionalleiters erhalten. Auch die Aufforderung, die Vermittlung bestimmter Produkte zu intensivieren, und die daraus erwachsende Rechenschaftspflicht ist für das Gericht mit der Selbständigkeit eines Finanzberaters unvereinbar.
Einer Eingliederung in den Betrieb der Bank stehe – so das Sozialgericht Frankfurt a.M. weiter – auch nicht entgegen, dass es dem Finanzberater ausweislich des Vertrags möglich gewesen wäre, eine eigene Betriebsstätte zu unterhalten. Ohne Anwesenheit in der Agentur sei es dem Finanzberater mangels Gebiets- und Kundenschutzes nicht möglich gewesen, Provisionen zu erwirtschaften, da es allein auf seine konkrete Vermittlungstätigkeit ankam. So sei er gezwungen gewesen, während der Öffnungszeiten der Agentur vor Ort zu sein, um die Möglichkeit zu haben, mit Kunden der Bank in Kontakt zu kommen und diesen Produkte vermitteln zu können.
Dadurch, dass die vormals als „Filiale“ genutzten Räumlichkeiten durch den Finanzberater weitergenutzt wurden, habe die Bank – so das Sozialgericht Frankfurt a.M. weiter – ein Umfeld geschaffen, in dem die Finanzberater dem Kunden gegenüber als Vertreter der Bank erscheinen. Die gesamte Ausgestaltung der Agentur, die Anbringung des Leuchtlogos an der Außenseite und die Bebilderung im Corporate-Design weckten gegenüber jedem Kunden den Eindruck, dass es sich um eine normale Bankfiliale handelt. Dass ein Schriftzug auf einem Plakat im Fenster der Agentur darauf hinweist, dass es sich um „selbständige“ Vermittler handele und diese ein Namensschild tragen, wonach sie „selbständig“ seien, trete aus Sicht eines durchschnittlichen Kunden vollumfänglich gegenüber der sonstigen Außen- sowie der Innengestaltung zurück.
Das zur Vermittlung erforderliche Fachwissen des Finanzberaters wurde ausschließlich über die Bank vermittelt. Auch war der Finanzberater weder bei der Wahl seiner Berufs-Haftpflichtversicherung noch seines Kontos frei. Im Allgemeinen sei ein unternehmerisches Risiko des Finanzberaters nicht ersichtlich, da er weder eine eigene Betriebsstätte noch eigenes Personal hatte, keine eigenen Betriebsmittel oder Werbematerialien einsetzte und keinem Haftungsrisiko für Schlechtleistung ausgesetzt war.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die betroffene Bank hat Berufung gegen das Urteil eingelegt.
Ausblick und Auswirkung auf die Beratungspraxis
Das Urteil betrifft die an sich nicht neue Abgrenzung zwischen einem abhängig Beschäftigten und einem Handelsvertreter. Sie spielt nicht nur im Verhältnis zwischen Banken und ihren Finanzberatern eine Rolle, sondern immer dann, wenn ein Handelsvertretervertrag mit einer natürlichen Person abgeschlossen wird. Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. zeigt, dass es auf eine Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls ankommt und es hierbei diverse einzelne Umstände gibt, die für oder gegen eine selbständige Tätigkeit sprechen. Daher fällt eine eindeutige Einordung in der Praxis nicht immer leicht.
Bei der Gestaltung der Tätigkeit des Absatzmittlers, der als Selbständiger tätig werden soll, ist insbesondere strukturellen Defiziten im Hinblick auf die betriebliche Eingliederung und die fachliche Weisungsabhängigkeit und mithin mit Blick auf das „Umfeld“, in welchem die Leistungen erbracht werden sollen, vorzubeugen. Umgekehrt ist dabei auch das gesetzliche Leitbild der Tätigkeit des Handelsvertreters, wie es in den §§ 84 ff. HGB zum Ausdruck kommt, zu berücksichtigen. Beispielsweise hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 20.9.2000 (5 AZR 271/99) in Bezug auf einen Versicherungsvertreter entschieden, dass es seinem Selbständigenstatus nicht per se entgegenstehe, wenn er einem fachlichen Weisungsrecht unterliegt. Das ist auch korrekt, weil nach §§ 92, 86 HGB auch ein Versicherungsvertreter (Handelsvertreter) weisungsabhängig ist. Für die Unselbständigkeit des Beschäftigten spricht aber ein personenbezogenes und ablauforientiertes Weisungsrecht hinsichtlich der Umstände, unter denen die Leistung erbracht werden soll. Im Ergebnis kommt es immer auf eine Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls an. Da die betroffene Bank in dem der Entscheidung des Sozialgerichts Frankfurt a.M. zugrundeliegenden Fall Berufung eingelegt hat, bleibt abzuwarten, wie das Hessische Sozialgericht (L 8 BA 36/21) den konkreten Fall entscheiden wird.
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