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Scheinselb­ständigkeit: DRV-Entscheidung hat keine Bedeutung für die Abgrenzung zwischen Dienst- und Arbeits­vertrag

02.06.2022

Die Zusammenarbeit mit Solo-Selbständigen kann je nach vertraglicher und tatsächlicher Ausgestaltung zu dem Problem der abhängigen Beschäftigung führen. Die zur Abgrenzung zum Arbeitsverhältnis gebotene Gesamtbetrachtung stellt die Praxis regelmäßig vor große Herausforderungen. So ist das Abgrenzungsergebnis einer wertenden Entscheidung im Einzelfall vorbehalten, wodurch das Risiko besteht, dass Gerichte und Behörden zu einer von der eigenen Rechtsauffassung abweichenden Beurteilung kommen.

Dass insoweit kaum „harte“ Abgrenzungskriterien bestehen, ist bekannt. Mit Urteil vom 30.11.2021 (9 AZR 145/21) hat das BAG zwar die Wichtigkeit der Gesamtbetrachtung hervorgehoben, spricht der Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Bund, dass keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt, aber jede indizielle Bedeutung für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses ab. Damit hat das BAG nicht nur die Eigenständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit und die eigenständige Bedeutung des § 611 a BGB gegenüber den sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen zur abhängigen Beschäftigung (§§ 7 ff. SGB IV) betont, sondern die Rechtsanwendung und -beratung weiter verkompliziert.

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung und – inzident – darüber, ob das Rechtsverhältnis der Parteien zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung als Arbeitsverhältnis (§ 611 a BGB) zu qualifizieren ist.

Der Kläger war für die Beklagte, ein Verlagshaus, seit dem 01.01.1990 als Sportfotograf tätig. Am 01.02.1995 schlossen die Parteien einen sog. Pauschalistenvertrag, der u. a. regelte, dass der Kläger eine monatliche Pauschale erhielt und darüber hinaus seine Auslagen abrechnen durfte. Eine solche Honorarvereinbarung wurde ausdrücklich durch § 8 des Tarifvertrags für arbeitnehmerähnliche freie Journalisten und Journalistinnen an Tageszeitungen vom 01.05.1991 vorgesehen.

Sofern der Kläger analog fotografierte, entwickelte er die Bilder in den Betriebsräumen der Beklagten. Auch wurde ihm ein E-Mail-Account durch die Beklagte eingerichtet. Auslagen, z.B. für Reisen, rechnete der Kläger auf einem von der Beklagten zur Verfügung gestellten Formular „Honorarerfassungsbeleg – Spesenabrechnung für freie Mitarbeiter“ ab. An den Sitzungen der Sportredaktion nahm er indes nicht regelmäßig teil.

Anfang des Jahres 2018 bot die Beklagte dem Kläger den Abschluss eines „Vertrages für freie Mitarbeiter“ zu veränderten Bedingungen an, den der Kläger am 06.02.2018 ablehnte. Mit Schreiben vom 20.06.2018 kündigte die Beklagte das Vertragsverhältnis fristgerecht zum 30.09.2018.

Mit Bescheid vom 19.06.2020 stellte die Deutsche Rentenversicherung Bund fest, dass das „Auftragsverhältnis“ der Parteien keine Versicherungspflicht aufgrund abhängiger Beschäftigung in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, in der sozialen Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung begründe.

Der Kläger ist der Auffassung, dass ihn mit der Beklagten ein Arbeitsverhältnis verbinde, da die Beklagte ihm in sowohl zeitlicher als auch fachlicher Hinsicht Weisungen erteilt habe und er in ihre Arbeitsorganisation eingebunden gewesen sei. Die Beklagte ist demgegenüber der Ansicht, dass sie mit dem Kläger ein freier Dienstvertrag verbinde.

Entscheidung des BAG

Das BAG hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht (LAG Köln, 02.10.2020 – 10 Sa 129/19) zurückverwiesen.

In einer neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht zu berücksichtigen haben, dass die Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Bund für die rechtliche Einordnung des Vertragsverhältnisses nicht von Bedeutung ist. Die sozialversicherungsrechtliche Behandlung der vereinbarten Vergütung ist für die Frage, welcher Natur das Rechtsverhältnis ist, mithin ohne Belang. Als Erklärung führt das BAG an, dass das sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis und das Arbeitsverhältnis nicht identisch sind.

In Bezug auf die monatliche Pauschale führt das BAG seine bisherige Rechtsprechung fort, der zufolge dieser keine indizielle Bedeutung beizumessen ist, da nur die Umstände der Dienstleistung, nicht aber die Modalitäten der Vergütungszahlung entscheidend sind.

Ausblick und Auswirkung auf die Beratungspraxis

Die Entscheidung verdeutlicht, dass das BAG die in § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB normierte Pflicht, eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen, ernst und nicht lediglich floskelhaft versteht. So hat es das Berufungsgericht in dreierlei Hinsicht gerügt: Zum einen in Bezug auf die Berücksichtigung von Umständen, zu denen keine tatbestandlichen Feststellungen getroffen wurde, zum anderen in Bezug auf die Nichtberücksichtigung von Umständen, die sich aus dem Parteivortrag ergeben haben, und schließlich in Bezug auf die Säumnis, die entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte nachvollziehbar zu gewichten.

Die Entscheidung des BAG verdeutlicht auch die praktischen Folgen, die daraus erwachsen, dass sozialversicherungsrechtliches Beschäftigungsverhältnis und Arbeitsverhältnis nicht identisch sind. Gemäß § 7 Abs. 1 SGB IV ist das Arbeitsverhältnis lediglich ein Unterfall der nichtselbständigen Arbeit, an die der sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsbegriff geknüpft ist. Aus diesem Grund kann es für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses unerheblich sein, wenn die Deutsche Rentenversicherung Bund im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens zu dem Ergebnis kommt, dass keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt. Damit verliert die Praxis ein wichtiges Indiz zur Beantwortung der im Einzelfall ggf. schwierigen Frage, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt.

Ob dem Urteil des BAG auch entnommen werden kann, dass einer positiven Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Bund ebenso wenig indizielle Bedeutung zukommt, wird in den Entscheidungsgründen zwar nicht ausdrücklich erläutert, ist aus dogmatischen Gründen aber anzunehmen. So handelt es sich bei dem Urteil des BAG vor allem um eine Rüge an das Berufungsgericht, es sich mit der Abgrenzung nicht zu einfach zu machen. Indes ist nicht davon auszugehen, dass das BAG „zwischen den Zeilen“ die Möglichkeit eröffnen wollte, das Arbeits- vom Sozialrecht zu entkoppeln und damit das Arbeitsverhältnis von der Sozialversicherungspflichtigkeit zu lösen.

 

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