Neues zu hybriden Kartellverfahren – behördliche Unparteilichkeit auch nach Abbruch der Vergleichsverhandlungen?
Der Gerichtshof der Europäischen Union („EuGH“) hat mit Urteil vom 1. Februar 2024 (C-251/22 P) klargestellt, dass die Europäische Kommission („Kommission“) hybride Kartellverfahren nicht mit unterschiedlichen Case Teams führen muss. Die Unparteilichkeit der Kommission wird dadurch nicht ohne Weiteres in Frage gestellt. Im Gegenteil: Die Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung und der zügigen Durchführung des Verwaltungsverfahrens gebieten es in der Regel sogar, dass hybride Kartellverfahren von demselben bei der Kommission zuständigen Case Team geführt werden.
Hintergrund
Bei Kartellermittlungen steht es im Ermessen der Kommission, den Beteiligten einen Vergleich anzubieten. Gehen die Beteiligten hierauf ein und erfüllen die Vorgaben der Mitteilung über Vergleichsverfahren, wird die Kommission den Betrag der zu verhängenden Geldbuße um 10 % reduzieren. Der Mehrwert des Vergleichsverfahrens liegt für die Kommission darin, „mit unveränderten Ressourcen mehr Fälle bearbeiten zu können, um dadurch dem Allgemeininteresse an einer wirksamen und rechtzeitigen Ahndung von Zuwiderhandlungen zu entsprechen und die Abschreckungswirkung insgesamt zu verbessern“ (Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren). Sinn und Zweck ist es also, die Durchführung eines einfacheren, kürzeren und ressourcenschonenderen Verfahrens zu belohnen.
Die Kommission zeigt sich in der Regel nur dann zur Durchführung eines Vergleichsverfahrens bereit, wenn dem alle Parteien zustimmen. Hybride Kartellverfahren – d. h. Kartellverfahren, bei denen nur mit manchen Parteien ein Vergleich geschlossen und gegen andere Parteien nach dem normalen Kartellverfahren ermittelt wird – sind häufig komplex und führen nicht im selben Maße zu den gewünschten Effizienzgewinnen hinsichtlich der Verfahrensdauer und -intensität. Denn die Kommission muss in solchen Fällen eine deutlich umfassendere Mitteilung der Beschwerdepunkte vorbereiten, umfangreiche Akteneinsicht gewähren und auf Wunsch der nicht vergleichsbereiten Parteien auch eine mündliche Anhörung durchführen.
Zu hybriden Kartellverfahren kommt es daher in der Regel nur dann, wenn sich zunächst alle Parteien zu einem Vergleich bereit zeigen und die Kommission trotz des Abbruchs der Vergleichsverhandlungen einer Partei noch einen ausreichenden Mehrwert darin sieht, das Vergleichsverfahren mit den anderen Parteien fortzuführen.
Bricht eine Partei die Vergleichsverhandlungen rechtzeitig ab, ist sie nicht länger an ihre Vergleichsausführungen gebunden. Die Kommission kann diese daher auch nicht länger als Beweismittel gegen diese Partei verwenden. Die Kommission ist folglich verpflichtet, eine eigenständige, von dem Vergleich der anderen Parteien losgelöste, rechtliche Bewertung vorzunehmen und sämtliche vorgetragene Informationen und Argumente unvoreingenommen zu prüfen.
Urteil
Dies bedeutet aber nicht – wie der EuGH nun geklärt hat –, dass sich auch ein neues Case Team mit dem Fall beschäftigen muss. Die Vorgehensweise der Kommission verletzt weder die Unschuldsvermutung noch den hiervon zu unterscheidenden Grundsatz der Unparteilichkeit, der zum Recht auf eine gute Verwaltung gehört. Im Gegenteil: Ein Wechsel des bei der Kommission zuständigen Case Teams „liefe vielmehr den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Verwaltung und der zügigen Durchführung des Verwaltungsverfahrens zuwider“. Dies gilt selbst dann, wenn die Kommission zeitlich gestaffelt vorgeht und zunächst den Vergleichsbeschluss erlässt.
Den Mitarbeitern der Kommission wird also zugestanden, etwaigen selbstbelastenden Parteivortrag im Rahmen der Vergleichsverhandlungen ausblenden und den Fall weiterhin unvoreingenommen bewerten zu können.
Bewertung und Folgen für die Praxis
Zu begrüßen ist hieran, dass die Durchführung von hybriden Kartellverfahren nicht weiter erschwert wird. Müsste die Kommission bei teilweisem Abbruch der Vergleichsverhandlungen ein weiteres Case Team mit dem Fall betrauen, würde der Effizienzgewinn einer Fortsetzung der Vergleichsverhandlungen mit den restlichen Parteien wohl häufig entfallen. Einzelne Parteien hätten damit ein Vetorecht über die Erfolgsaussichten eines Vergleichs der anderen Parteien.
Dennoch kann man durchaus skeptisch sein, ob dieselben Mitarbeiter nach möglicherweise bereits abgegebenen Aussagen und Zugeständnissen im Rahmen der Vergleichsverhandlungen mit einer Partei tatsächlich vollkommen neutral über den Fall im gewöhnlichen Verfahren entscheiden können. Parteien sind daher gut beraten, in den Vergleichsverhandlungen mit der Kommission umsichtig vorzugehen und sich frühzeitig zu überlegen, wie sie die Kooperation mit der Kommission ausgestalten möchten. Sollten konkrete Anhaltspunkte für eine persönliche Voreingenommenheit nach Abbruch der Vergleichsverhandlungen vorliegen, sollten diese gut dokumentiert werden.
Es wird sich zeigen, ob die mit der letztinstanzlichen Entscheidung einhergehende Rechtssicherheit für die Durchführung hybrider Vergleichsverfahren sich auch positiv auf die EU-Kronzeugenregelung auswirken wird, welche für die Kommission eine zentrale Rolle bei der Aufdeckung und Verfolgung von Kartellabsprachen spielt. Denn die Möglichkeit über einen Vergleich eine zusätzliche Reduzierung des Bußgelds zu erlangen, dürfte regelmäßig einen zusätzlichen Anreiz für die Stellung eines Kronzeugenantrags darstellen. Dies gilt zumindest dann, wenn keine Gewissheit darüber besteht, ob andere Kartellteilnehmer bereits schneller waren und damit über den Kronzeugenantrag kein vollumfänglicher Bußgelderlass mehr erreicht werden kann.
Der Anstieg an Durchsuchungen nach dem Ende der Corona Pandemie zeigt jedenfalls, dass Kartellverfahren wohl nicht an Bedeutung verloren haben und eine wichtige Durchsetzungspriorität der Wettbewerbsbehörden in der Europäischen Union bleiben dürften. Bei Fragen zur Stellung von Kronzeugenanträgen, den Chancen und Risiken von Vergleichsverfahren oder für eine weitere Beratung zu Kartellverfahren und damit verbundenen Compliance Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.