Leiharbeit-EuGH erteilt einer arbeitsplatzbezogenen Betrachtung der Höchstüberlassungsdauer klare Absage
Mit Spannung war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zu den Vorlagefragen des LAG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 13.05.2020 – Az. 15 Sa 1991/19) im Zusammenhang mit der Höchstüberlassungsdauer aus § 1b AÜG mit Blick auf die Zeitarbeitsrichtlinie 2008/104/EG erwartet worden, stand doch für viele Unternehmen nicht weniger auf dem Spiel als deren Personalstrategie. Am 17.03.2022 nun hat der EuGH – durchaus unternehmensfreundlich – entschieden, dass
- die Leiharbeitsrichtlinie (RL 2008/104) der Beschäftigung eines Leiharbeitnehmers auf einem Dauerarbeitsplatz nicht entgegensteht;
- die nationalen Gerichte im Wege der „Missbrauchskontrolle“ (siehe auch Entscheidung des EuGH vom 14.10.2020) entscheiden müssen, ob aufeinanderfolgende Überlassungen mit einer Gesamtdauer von 55 Monaten „vorrübergehend“ sind;
- die Richtlinie 2008/104 die nationalen Gerichte verpflichtet zu prüfen, in welchen Fällen die Übergangsvorschrift gemäß § 19 Abs. 2 AÜG, im Zusammenhang mit bereits vor dem 01.04.2017 erfolgten Überlassungen, noch zu einer insgesamt „vorübergehenden“ Überlassung führt;
- einem Leiharbeitnehmer aus Art. 10 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie in Ermangelung nationaler Sanktionsvorschriften kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen wegen Überschreitens der Höchstüberlassungsdauer vor dem 1.4.2017 zusteht und
- die Richtlinie 2008/104 einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die für die jeweilige Branche zuständigen Tarifparteien ermächtigt, von der gesetzlich festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen.
Der Sachverhalt
Der Kläger war vom 01.09.2014 bis zum 31.05.2019 als Leiharbeitnehmer ausschließlich bei der Beklagten in der Motorenfertigung eingesetzt, ohne dass ein Vertretungsfall vorlag. Das Arbeitsverhältnis war anfangs zweimal auf jeweils ein Jahr befristet und danach unbefristet fortgeführt worden. Der Kläger begehrte vor dem Arbeitsgericht Berlin die Feststellung, dass seine Überlassung nicht als vorübergehend anzusehen und daher zwischen ihm und der Beklagten ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei.
Die Beklagte hingegen vertrat die Ansicht, der Begriff „vorübergehend“ sei seit dem 01.04.2017 geklärt. Tarifverträge können seither von der gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer abweichen. Die in der streitgegenständlichen, aufgrund eines entsprechenden Tarifvertrags abgeschlossenen Gesamtbetriebsvereinbarung vorgesehenen 36 Monate seien damit wirksam vereinbart und nicht überschritten worden, da Zeiten vor dem 01.04.2017 nicht zu berücksichtigen seien.
Letzter Ansicht schloss sich das Arbeitsgericht Berlin an und wies die Klage ab. Im Zuge der eingelegten Berufung legte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg dem Europäischen Gerichtshof die nun beantworteten Fragen vor.
Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH hat sich nun zu den Fragen wie folgt geäußert:
Zunächst stellt der EuGH fest, dass sich der Begriff „vorübergehend“ nicht auf den Arbeitsplatz beziehe, sondern auf die Modalitäten der Überlassung. In Bezug auf die Höchstüberlassungsdauer sehe die Leiharbeitsrichtlinie in Art. 5 Abs. 5 Satz 1 vor, dass Mitgliedstaaten Maßnahmen nationaler Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten ergreifen können, um eine missbräuchliche Anwendung und in diesem Rahmen aufeinanderfolgende Überlassungen zu verhindern. Anknüpfend daran verdeutlicht der EuGH, dass bei einem ausschließlich zwischen Privatpersonen geführten Rechtsstreit grundsätzlich das nationale Recht im Lichte des Unionsrechts auszulegen sei und betont, dass das Unionsrecht aber keinesfalls eine Auslegung gegen nationales Recht rechtfertige.
Im Zusammenhang mit der Überlassungsdauer von 55 Monaten führt das Gericht aus, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der Richtlinie nicht verpflichtet seien, eine bestimmte Höchstüberlassungsdauer festzulegen. Gleichwohl werde den Mitgliedstaaten durch Art. 5 Abs. 5 S. 1 der Richtlinie die Verpflichtung auferlegt, durch geeignete Maßnahmen aufeinanderfolgende Überlassungen des Leiharbeitnehmers bei demselben Entleiher und damit eine für diesen entstehende Dauersituation zu verhindern. Falls eine als „vorübergehend“ festgelegte Dauer von den Mitgliedstaaten nicht genannt werde, sei es die Sache des nationalen Gerichts die zeitliche Dauer unter den Begriff „vorübergehend“ anhand des Einzelfalls und unter Berücksichtigung sämtlich relevanter Umstände, insbesondere der Branchenüblichkeiten, zu überprüfen. Wenn zudem keine objektive Erklärung durch das entleihende Unternehmen für die Reihe aufeinanderfolgender Überlassungen vorgebracht werde, ermögliche dies auch den entsprechenden Schluss auf einen missbräuchlichen Einsatz.
Mit Blick auf die Frage der Vereinbarkeit der Übergangsvorschrift in § 19 Abs. 2 AÜG mit der Richtlinie zeigt das Gericht auf, dass es den Mitgliedstaaten freistehe, eine Höchstüberlassungsdauer festzusetzen und eine damit verbundene Übergangsvorschrift vorzusehen. Daher seien nationale Gerichte angehalten § 19 Abs. 2 AÜG anhand des Unionsrechts auszulegen und ggf. unangewendet zu lassen. Hier seien nach dem EuGH lediglich Staatshaftungsansprüche aufgrund versäumter Umsetzung denkbar.
Zuletzt räume die Richtlinie den Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung den Sozialpartnern eine Interventionsmöglichkeit ein. Dies sehen bereits der 16. und 19. Erwägungsgrund der Richtlinie vor. Es werde dort den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben, den Sozialpartnern zu gestatten, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen. Eine Abweichung tarifvertraglicher Regelungen sei daher zulässig, solange das Gesamtschutzniveau für den Arbeitnehmer gewahrt bliebe.
Ausblick und Auswirkung auf die Beratungspraxis
Der EuGH schließt sich mit dieser Entscheidung seinen vorgegangenen Entscheidungen an. Er entspricht weitestgehend, insbesondere mit der arbeitnehmerbezogenen Betrachtung bei der Auslegung des Begriffs „vorübergehend“, der herrschenden Meinung, überlässt bei der weiteren Beantwortung den nationalen Gerichten aber einen weitreichenden Auslegungsspielraum. Die Entscheidung des EuGH entspricht der Erwartung im Schrifttum. Dies führt dazu, dass weiterhin den Arbeitgebern eine Flexibilität der Besetzung der Arbeitsplätze eingeräumt wird, ohne auf einen nur vertretungs- oder übergangsweise geschaffenen Arbeitsplatz beschränkt zu sein. Diese Klarstellung durch den EuGH ist ausdrücklich zu begrüßen. Gleiches gilt für die unmissverständliche Klarstellung, dass mittels Tarifverträgen von der gesetzlichen, in vielen Branchen als unpraktikabel kurz empfundenen Höchstüberlassungsdauer abgewichen werden darf. Dies ist ein starkes und noch nicht ausgereiztes Gestaltungmittel.
Mit Blick auf die weiteren Fragen hängt nun viel davon ab, wie die nationalen Gerichte die aufgezeigte Missbrauchskontrolle auch mit Blick auf die Übergangsvorschrift des § 19 Abs. 2 AÜG ausüben werden.
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