EuGH weitet Klagebefugnis auf EU-Fahrzeug-Typgenehmigungen aus
Mit Urteil vom 08.11.2022, Rs. C-873/19, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Klagerechte von Umweltvereinigungen im Vergleich zur bisherigen deutschen Praxis erheblich erweitert und – in diesem Fall – auf die Klage gegen EU-Fahrzeug-Typgenehmigungen ausgedehnt. Dabei hat der EuGH zudem neuerlich den Anwendungsvorrang des Unionsrechts betont, sodass auch etwaige einschränkende Vorschriften des deutschen Rechts (hier § 42 Abs. 2 VwGO, UmwRG) der Klagebefugnis nicht entgegenstehen.
Im konkreten Fall ging es um eine Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) wegen dessen Genehmigung einer in Dieselfahrzeugen eingesetzten Software, die die DUH für eine illegale Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 hält. Die Bedeutung einer solchen Klage kann dabei kaum überschätzt werden. Im Erfolgsfall bringt sie eine Typgenehmigung für Fahrzeuge zu Fall, ohne die die Fahrzeuge auf dem Markt weder bereitgestellt noch zugelassen werden dürfen (Art. 50 der Verordnung (EU) 2018/858) und der Betrieb bereits zugelassener Fahrzeuge untersagt werden kann (§ 5 FZV).
Ein solch weitreichendes Klagerecht der DUH hatte das VG Schleswig in einem vergleichbaren Fall noch abgelehnt (Urt. v. 13.12.2017, 3 A 26/17). Auch der deutsche Gesetzgeber hatte bei der Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) eine Klage von Umweltorganisationen gegen EU-Typgenehmigungen zu unterbinden versucht. Angesichts neuerer Rechtsprechung des EuGH (Rs. C-664/15 (Protect)) sah sich das VG Schleswig nunmehr jedoch zu einer Vorlage an den EuGH veranlasst. Auf diese Vorlage hin hat der EuGH mit dem hier besprochenen Urteil entschieden, dass es einer nach nationalem Recht grundsätzlich klageberechtigten Umweltvereinigung möglich sein muss, eine EU-Typgenehmigung anzugreifen. Dies folge aus Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention in Verbindung mit Art. 47 der EU-Grundrechtecharta (GRCh): Die Erteilung der Typgenehmigung durch das KBA sei eine Handlung im Sinne Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention, die möglicherweise gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 verstoße. Bei dieser Vorschrift handle es sich um eine umweltbezogene Vorschrift im Sinne des Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention. Der sonach anwendbare Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention verpflichte im Zusammenwirken mit Art. 47 GRCh dazu, „einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Recht der Union garantierten Rechte, insbesondere der Vorschriften des Umweltschutzes, zu gewährleisten“ (Rn. 66 des Urteils).
Vor diesem Hintergrund sei es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das deutsche Recht eine unionsrechtskonforme Auslegung zulasse. Der EuGH geht aber, wohl auch mit Blick auf die Intention des deutschen Gesetzgebers, noch einen Schritt weiter. Er liest letztlich die Vorgaben der Aarhus-Konvention in das Grundrecht aus Art. 47 Abs. 1 GRCh hinein – mit ganz erheblichen Konsequenzen: Während der Aarhus-Konvention nach der Rspr. des EuGH keine unmittelbare Wirkung zukommt, gilt das für das Grundrecht aus Art. 47 Abs. 1 GRCh natürlich nicht: Innerhalb seines Anwendungsbereichs genießt es ohne Weiteres Anwendungsvorrang vor widersprechendem nationalen Recht. Ist eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, greift also der Anwendungsvorrang des Art. 47 Abs. 1 GRCh, der etwaige widersprechende Vorschriften aus VwGO oder UmwRG überdeckt.
Das Ergebnis steht im konkreten Verfahren fest: Umweltvereinigungen wie der DUH kommt eine Klagebefugnis gegen EU-Typgenehmigungen zu. Das VG Schleswig wird nun lediglich noch die dogmatische Frage klären müssen, wie es die Vorgaben des EuGH umsetzt, ob es also das deutsche Recht unionsrechtskonform auslegt oder den Anwendungsvorrang des Unionsrechts annimmt. Darüber hinaus wird es – materiell – über die Rechtmäßigkeit der von der DUH angegriffenen Abschalteinrichtung zu befinden haben; auch insoweit ist der EuGH mit dem besprochenen Urteil bei seiner engen Auslegung des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 715/2007 geblieben.
Das Urteil weckt unter zwei Gesichtspunkten ein besonderes Interesse: Zuvorderst natürlich, weil es die Klagebefugnis von Umweltvereinigungen auch auf EU-Typgenehmigungen für Fahrzeuge erstreckt, soweit sie gegen umweltbezogene Vorschriften verstoßen. Eingedenk der umfangreichen neuen umweltrechtlichen Vorgaben, die in den letzten Jahren erlassen wurden, ist diese neue Klagebefugnis weitreichend. Entsprechend euphorisch war die Freude der DUH. Letztlich führt die Entscheidung des EuGH aber auch neuerlich die Aarhus-Konvention und das deutsche UmwRG vor Augen und lenkt den Blick auf die grundsätzlich – über EU-Typgenehmigungen weit hinausreichenden – Klagebefugnisse der Umweltvereinigungen. Die Verbindung dieser weitreichenden Klagebefugnis mit den aktuellen Zielen der zunehmenden Klimaklagen, dem Trend der Climate Litigation, führt die zweite wesentliche Bedeutung dieser Entscheidung vor Augen. Unternehmen sind deshalb gut beraten alle umweltrechtlichen Vorgaben penibel einzuhalten, um sich unangreifbar zu machen.