Ein Jahr seit Neuauflage der IBA-Regeln zur Beweisaufnahme 2020: Berücksichtigung der Schiedspraxis der letzten zehn Jahre und des zunehmenden Einsatzes von Kommunikationstechnologie
Am 17. Februar 2021 veröffentlichte die International Bar Association (IBA) ihre überarbeiteten Regeln zur Beweisaufnahme in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, die am 17. Dezember 2020 verabschiedet wurden (IBA-Regeln 2020). Die IBA-Regeln 2020 spiegeln etablierte Praktiken und fortlaufende Entwicklungen bei der Beweisaufnahme in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wider, die nicht zuletzt durch den verstärkten Einsatz von Technologie infolge der weltweiten COVID-19-Pandemie beeinflusst wurden.
Nach fast einem Jahr mit den IBA-Regeln 2020 werden in diesem Beitrag die Änderungen hervorgehoben, die sich in der Praxis als besonders relevant erwiesen haben, insbesondere in Bezug auf Datenschutz, Cybersicherheit und den verstärkten Einsatz von Kommunikationstechnologie als direkte Reaktion auf die aktuelle Pandemie.
Ziel der IBA-Regeln 2020
Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Jahr 1999 stellten die IBA-Regeln einen ersten Versuch dar, international bewährte Praktiken für die Beweisaufnahme in internationalen Schiedsverfahren zu kodifizieren und dabei ein Gleichgewicht zwischen der zivilrechtlichen Praxis und den Praktiken des Common Law herzustellen. Seitdem haben die IBA-Regeln breite Akzeptanz bei Schiedsgerichten gefunden, die sie ganz oder teilweise direkt anwenden oder sich an ihnen orientieren.
Die neue Überarbeitung ist – nach der ersten Novellierung im Jahr 2010 (IBA-Regeln 2010) – nunmehr die zweite Aktualisierung der IBA-Regeln. Für die zweite Überarbeitung schlug die Task Force, die vom IBA Guidelines and Rules Subcommittee eingesetzt wurde (2020 Task Force), Änderungen an den IBA-Regeln vor, nachdem sie das Feedback von über 160 Schiedsinstitutionen weltweit berücksichtigt hatte. Im Ergebnis enthalten die IBA-Regeln 2020 sowohl notwendige Klarstellungen als auch Anpassungen an die in den letzten zehn Jahren eingeführten Entwicklungen und Praktiken.
Redline und Kommentar
Eine hilfreiche Gegenüberstellung der IBA-Regeln 2020 und 2010 sowie eine umfassende Kommentierung der neuen Regeln durch die 2020 IBA Review Task Force (Kommentar) sind auf der IBA-Website verfügbar.
Berücksichtigung von Fragen der Cybersicherheit und des Datenschutzes
In den IBA-Regeln 2020 wurde die zunehmende Bedeutung von Cybersicherheit und Datenschutz im Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit berücksichtigt. Unternehmen gehen täglich mit sensiblen Daten, wie personenbezogenen Daten und digitalen Betriebsgeheimnissen, um. Werden solche Informationen in Schiedsverfahren verwendet, könnten auch diese zum Zielobjekt von Cyberangriffen auf Unternehmen, Anwaltskanzleien oder Institutionen werden.
Die IBA-Regeln 2020 haben daher verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass die Parteien und Schiedsgerichte Fragen der Cybersicherheit und des Datenschutzes bereits in einem frühen Stadium des Schiedsverfahrens im Blick haben. Dieser Aspekt wurde in Art. 2 der IBA-Regeln 2020 als Art. 2.2(e) aufgenommen. Danach sollen sich die Parteien und Schiedsgerichte schon im Rahmen der frühzeitigen Erörterung von Beweisfragen mit Fragen der Cybersicherheit und des Datenschutzes befassen.
Vorlegung von Dokumenten
Die Artikel über die Vorlegung von Dokumenten wurden nur geringfügig überarbeitet, um insoweit etablierten Praktiken Rechnung zu tragen. So war beispielsweise in den IBA-Regeln 2010 die bewährte Praxis, einer antragstellenden Partei die Möglichkeit zu geben, auf eine Einwendung der gegnerischen Partei zu replizieren, bisher nicht ausdrücklich vorgesehen. Diese Praxis wurde nun im überarbeiteten Art. 3.5 der IBA-Regeln 2020 kodifiziert.
Eine weitere praxisrelevante Änderung des Prozesses der Dokumentenvorlegung – die erheblich dazu beiträgt, den Zeit- und Kostenaufwand für diese Phase des Schiedsverfahrens zu verringern – betrifft die Übersetzung von Dokumenten, die inter partes infolge eines Antrags auf Vorlegung von Dokumenten übergeben werden. Die frühere Pflicht zur Einreichung von Übersetzungen solcher Dokumente wurde in den IBA-Regeln 2020 abgeschafft (Art. 3.12(d) der IBA-Regeln 2020). Nur Dokumente, die dem Schiedsgericht in einer anderen als der Verfahrenssprache vorgelegt werden, sind nunmehr zu übersetzen (Art. 3.12(e) der IBA-Regeln 2020). Während die IBA-Regeln 2010 noch grundsätzlich verlangten, dass jede Partei Übersetzungen von jeglichen Dokumenten einreicht, die sie in einer anderen als der Verfahrenssprache vorlegt, wurde diese Anforderung von erfahreneren Praktikern aufgrund der hiermit verbundenen hohen Kosten – insbesondere in größeren internationalen Verfahren, in denen eine Vielzahl an Dokumenten auszutauschen sind – oft abbedungen.
Überarbeitete oder zusätzliche Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen
Nach den IBA-Regeln 2010 durften sich Gegengutachten nur auf Gegenstände beziehen, die in einer Zeugenerklärung, einem Sachverständigengutachten oder sonstigem Vorbringen einer Partei enthalten und die bisher im Schiedsverfahren nicht vorgetragen worden waren. In der Praxis wurde diese Beschränkung, die einer Partei nur eine einmalige Gelegenheit gab, ihre Argumente vorzubringen, weit ausgelegt und eher locker gehandhabt, da Parteien in der zweiten Sachverständigengutachten-Runde häufig neue Entwicklungen einbrachten. Durch die neu eingeführte Ausnahme in Art. 5.3(b) der IBA-Regeln 2020 wird den Parteien nun ausdrücklich das Recht eingeräumt, überarbeitete oder zusätzliche Sachverständigengutachten vorzulegen, um auf neue Entwicklungen einzugehen, die in einem früheren Sachverständigengutachten nicht berücksichtigt werden konnten. Parallel hierzu wurde in den IBA-Regeln 2020 auch der Anwendungsbereich der zweiten Runde von Zeugenerklärungen erweitert, um auf neue faktische Entwicklungen einzugehen, die in der ersten Runde nicht behandelt werden konnten (Art. 4. 6(b) der IBA-Regeln 2020).
Es ist jedoch anzumerken, dass laut Kommentar die Ausnahme in Art. 5.3(b) der IBA-Regeln 2020 einer Partei nur insoweit die Möglichkeit geben soll, in einer zweiten Runde überarbeitete oder zusätzliche Sachverständigengutachten vorzulegen, als die Partei damit auf neue Entwicklungen reagiert, die sie in einem früheren Sachverständigengutachten nicht behandeln konnte. Dies ist aus Gründen der Verfahrenseffizienz gerechtfertigt und soll verhindern, dass das Verfahren in einem späten Verfahrensstadium durch die überraschende Vorlage von Beweismitteln verschleppt wird.
Virtuelle mündliche Verhandlungen
Die IBA-Regeln 2010 regelten nicht ausdrücklich, ob und unter welchen Umständen mündliche Verhandlungen virtuell durchgeführt werden können. Die Task Force 2020 hat eine Definition der virtuellen Verhandlungen in die IBA-Regeln 2020 aufgenommen, die auch hybride Verhandlungen umfasst, die mit Hilfe von Kommunikationstechnologie durchgeführt werden:
"‘Remote Hearing’ means a hearing conducted, for the entire hearing or parts thereof, or only with respect to certain participants, using teleconference, videoconference or other communication technology by which persons in more than one location simultaneously participate;"
Zusätzlich wurde mit den IBA-Regeln 2020 in Art. 8 ein neuer zweiter Absatz eingeführt, der dem Schiedsgericht die Möglichkeit eröffnet, die Durchführung von virtuellen mündlichen Verhandlungen anzuordnen:
"At the request of a Party or on its own motion, the Arbitral Tribunal may, after consultation with the Parties, order that the Evidentiary Hearing be conducted as a Remote Hearing. (...)"
Diese Änderung war eine direkte Reaktion auf die nationalen Lockdowns und Reisebeschränkungen im Jahr 2020, die internationale Schiedsverfahren stark beeinträchtigten. Im Vergleich zu anderen Bereichen hat sich die Welt der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit recht schnell an die veränderten Umstände angepasst und ist von physischen zu virtuellen Verhandlungen übergegangen.
Im Kommentar heißt es dazu, dass Art. 8.2 der IBA-Regeln 2020 Schiedsgerichte ermutigen soll, bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verhandlung virtuell durchgeführt wird, proaktiv vorzugehen. Es ist jedoch nach wie vor umstritten, ob ein Schiedsgericht die Befugnis hat, eine virtuelle Verhandlung gegen den Willen einer Partei anzuordnen. Dies hängt auch von Faktoren außerhalb des Geltungsbereichs der IBA-Regeln ab, z. B. vom anwendbaren lex arbitri sowie von der Frage, ob dies ein Vollstreckungshindernis in der jeweiligen nationalen Jurisdiktion begründen kann.
Ausschluss rechtswidrig erlangter Beweismittel
Eine weitere bemerkenswerte Änderung ist schließlich der neu eingeführte Art. 9.3 der IBA-Regeln 2020, der es dem Schiedsgericht auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen ermöglicht, unrechtmäßig erlangte Beweise auszuschließen. Die Frage der unrechtmäßig erlangten Beweise stellt sich häufig im Zusammenhang mit Cyberangriffen oder Verletzungen der Cybersicherheit. In einigen Verfahren wurden beispielsweise vorgelegte Beweise über WikiLeaks erlangt. Die zuständigen Schiedsgerichte beurteilten die Zulässigkeit dieser Beweise uneinheitlich. Dem Kommentar zufolge berücksichtigten die Schiedsgerichte unter anderem, ob die vorlegende Partei an der rechtswidrigen Erlangung beteiligt war, ob die Beweise "material and outcome-determinative" waren, ob die Beweise durch öffentliche "Leaks" an die Öffentlichkeit gelangten und wie eindeutig und schwerwiegend das Ausmaß der Rechtswidrigkeit war. Die 2020 IBA Review Task Force hat versucht, Einzelfallentscheidungen zu ermöglichen, indem sie den Schiedsgerichten die Möglichkeit einräumt ("may"), illegal erlangte Beweise auszuschließen.
Schlussfolgerung und Ausblick
Die überarbeiteten IBA-Regeln 2020 enthalten einige willkommene Klarstellungen, welche die in den letzten zehn Jahren etablierten Standards in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit aufgreifen. Eine der größten Änderungen war die Regelung virtueller Verhandlungen, mit der die Task Force auf die nationalen Lockdowns und Reisebeschränkungen des Jahres 2020 reagierte. Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass diese Änderung von besonderer praktischer Relevanz war und dass die Möglichkeit virtuell zu verhandeln in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit weithin genutzt wurde. Andere Änderungen, wie die Berücksichtigung von Fragen der Cybersicherheit und des Datenschutzes sowie die Möglichkeit, unrechtmäßig erlangte Beweise auszuschließen, tragen den Standards und Herausforderungen unserer zunehmend digitalisierten Welt Rechnung. Wenngleich diese Änderungen in den IBA-Regeln 2020 teilweise nicht sehr klar und detailliert waren, boten sie Schiedsgerichten eine Orientierungshilfe für prozessuale Entscheidungen. Damit bleibt Raum für eine Bewertung und Argumentation im Einzelfall.