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Agile Arbeitsmethoden und Scheinselbständigkeit

20.06.2022
Mit Urteil vom 17.12.2021 hat das LSG Baden-Württemberg für die Praxis wichtige Klarstellungen zur Abgrenzung einer abhängigen Beschäftigung von einer selbstständigen Tätigkeit im Rahmen eines agilen Scrum-Prozesses zur Softwareentwicklung vorgenommen. Sie lassen weiterreichende Schlüsse auf die sozialversicherungsrechtliche Qualifikation von Beschäftigten zu, die mittels Scrum eingesetzt werden. „Scrum“ bezeichnet eine Form der agilen Produktentwicklung, bei welcher der Entwicklungsprozess schrittweise verläuft und das Anforderungsprofil an das zu entwickelnde Produkt erst im Laufe des Arbeitsprozesses definiert wird. Anders als im klassischen Produktentwicklungsmodell mit spezifiziertem Anforderungskatalog (Lastenheft) entstehen die Anforderungen im Scrum-Prozess parallel zum Entwicklungsfortschritt. Neben Risiken einer Arbeitnehmerüberlassung sind damit allerdings häufig auch sozialversicherungsrechtliche Risiken verbunden. Die Rechtsprechung ist dabei, klare Leitlinien zu entwickeln. Das LSG Baden-Württemberg hat im konkreten Fall die vorherige Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe (S 11 BA 4365/18) aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger als Programmierer mit Spezialkenntnissen selbstständig tätig war und nicht der Sozialversicherungspflicht unterlag.

I. Sachverhalt

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens über die Versicherungspflicht des Klägers – eines Softwareentwicklers – während seiner Tätigkeit als Programmierer für die Beigeladene zu 1) im Jahr 2018.

Die Beigeladene zu 1) erstellte Individualsoftware für ihren Endkunden, die Y AG. Das Projekt umfasste Entwicklungsleistungen im Bereich Konfigurationssysteme. Sie beauftragte ihrerseits den Kläger mit Programmierdienstleistungen im Rahmen dieses Projektes. Der Tätigkeit lag ein Rahmenvertrag über eine freie Mitarbeit mit einem Tageshonorar von EUR 524 sowie ein Einzelvertrag zugrunde. Als eine Kerntätigkeit sah der Einzelvertrag „die professionelle Entwicklung von Software im agilen Scrum-Prozess“ vor.

Während seiner Tätigkeit beantragte der Kläger gem. § 7a SGB IV die Feststellung seines sozialversicherungsrechtlichen Status. Mit ablehnendem Bescheid stellte die Beklagte - DRV Bund – fest, dass die Tätigkeit im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde. Zur Begründung führte sie an, dass der Kläger bei der Ausübung keine Gestaltungsmöglichkeiten habe. Zudem sei er in die Arbeitsorganisation des IT-Unternehmens eingebunden. Er arbeite nicht im eigenen Namen und auf eigene Rechnung. Daneben bestehe kein Unternehmensrisiko; der Kläger setze weder eigenes Kapital noch eigene Betriebsmittel in erheblichem Umfang ein. Damit sei der Kläger funktionsgerecht dienend in einer fremden Arbeitsorganisation tätig.

Die Klage gegen den ablehnenden Bescheid blieb erfolglos. Das SG folgte im Kern der Wertung der Beklagten. Im Ergebnis sei der Kläger bei der tatsächlichen Umsetzung nicht weisungsfrei gewesen.

II. Entscheidung des LSG Baden-Württemberg

Unter Rückgriff auf den vom BSG zur Auslegung des § 7 SGB IV entwickelten Beurteilungsmaßstab hob das LSG die Entscheidung im Berufungsverfahren auf. Bei der konkreten Tätigkeit des Klägers als Programmierer handle es sich um eine selbstständige Tätigkeit. Zu einem anderen Ergebnis führe auch der Umstand nicht, dass der Kläger in den Räumlichkeiten des IT-Unternehmens tätig wurde, da dies den sicherheitstechnischen Gegebenheiten geschuldet war, die eine Arbeit über einen Remote-Zugriff in den eigenen Arbeitsräumen des Klägers nicht erlaubten.

Bei der gebotenen Gesamtabwägung der konkreten Umstände des Einzelfalls erachtet das LSG folgende Aspekte als wesentliches Indiz für die Annahme der Selbstständigkeit:

Der Kläger war aufgrund der angewendeten agilen Prozessmethodik („Scrum“) in seinem Auftragsbereich frei. Anders als im klassischen Projektmanagement fehlte es an der Projektleitung, welche die Aufgaben verteilt. Daneben nahm der Kläger durch seine Spezialkenntnisse eine Sonderstellung ein. Dadurch konnte er sich bei der Arbeitsaufteilung die für ihn in Frage kommenden Arbeitspakete eigenverantwortlich aussuchen. Folgerichtig habe er seine Ergebnisse auch in einen separaten Entwicklungszweig eingestellt, was die Sonderstellung nochmals verdeutlichte. Dass der Kläger Arbeitspakete mit speziellen Problemen bearbeitete, begründe keine Eingliederung in das Unternehmen, da er gerade wegen seiner Spezialkenntnisse in diesem Bereich beauftragt wurde. Maßgeblich sei, dass ab Annahme eines Arbeitspaketes bis zur Abnahme keine weiteren Vorgaben zum Inhalt und Ablauf getätigt wurden.

Auch der Umstand, dass der Kläger nicht befugt war, die programmierten Komponenten selbst in das Programm einzufügen, sprach für das LSG gegen eine Eingliederung. In der dynamischen Arbeitswelt im IT-Bereich müsse das Kriterium der Eingliederung – so das LSG - an die Gegebenheiten der modernen Arbeitswelt angepasst werden.

Für die Frage der Eingliederung komme es nicht zuletzt auf einen Vergleich zur Tätigkeit der angestellten Programmierer an. Ausgehend von seinen Spezialkenntnissen habe der Kläger eine Sonderstellung gegenüber den anderen Programmierern inne, indem er nur solche Arbeitspakete bearbeitet habe, die sein Fachgebiet betrafen. Zudem habe das vereinbarte Tageshonorar von EUR 524 weit höher gelegen als das Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, wodurch eine Eigenversorgung des Klägers möglich gewesen sei.

III. Ausblick und Würdigung

Zur Abgrenzung zwischen einer abhängigen Beschäftigung und einer selbstständigen Tätigkeit greift das LSG Baden-Württemberg auf die vom BSG in ständiger Rechtsprechung entwickelten Kriterien zurück. Dem Umstand, dass der Kläger die Software mittels einer agilen Arbeitsmethode – hier „Scrum“ – entwickelte, misst das Gericht eine gewichtige Indizwirkung für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit bei. Gleichwohl lässt es in den Entscheidungsgründen zurecht erkennen, dass sich ein pauschaler Rückschluss von der gewählten Arbeitsmethodik auf den Status der Beschäftigung verbietet.

Mag sich die Arbeit im Scrum-Prozess auch durch das Fehlen von (tätigkeitsbezogenen) Weisungen – als ein Hauptindikator der Selbstständigkeit – auszeichnen, kann sie bereits keinem schuldrechtlichen Vertragstypus abstrakt zugeordnet werden. Modernen und agilen Formen der Arbeitsorganisation – allen voran in der IT-Branche – wohnt zwangsläufig inne, dass sie nicht losgelöst vom konkreten Einzelfall in das althergebrachte Schema einzupassen sind. Es sind vielmehr die vereinbarten und praktizierten Modalitäten des Scrum-Prozesses, die Rückschlüsse auf den Status der Beschäftigung zulassen. Das Gericht hebt für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit insbesondere hervor, dass der Kläger innerhalb des Scrum-Prozesses in seinem Auftragsbereich bezüglich der Auswahl der Arbeitspakete frei war (sog. Pull-Methode) und er aufgrund seiner hohen Spezialkenntnisse weitestgehend autonom im Entwicklungsteam agierte. Es liegt auf der Hand, dass das Urteil bei einem Sachverhalt mit umgekehrten Vorzeichen (Push-Methode und geringe Spezialisierung) abweichend ausfallen könnte.

Das Urteil führt vor Augen, dass der Ausgang eines Statusfeststellungsverfahren nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV auch bei der Wahl weisungsfreier Arbeitsmethoden - wie „Scrum“ - von einer Vielzahl von Faktoren mitbestimmt wird. Selbst eine minutiöse und bedachte Ausgestaltung im Einzel- oder Rahmenvertrag zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer bietet keine Garantie für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit, denn bei Scrum-Prozessen besteht aufgrund der wesensimmanenten Dynamik stets die Gefahr, eines Auseinanderdriften von vertraglicher Ausgestaltung und tatsächlicher Vertragsdurchführung. Es bedarf der Installierung eines Kontrollsystems, das die konsequente Einhaltung der vertraglichen Vereinbarungen überwacht und eine Nachjustierung ermöglicht.

Die Schwierigkeiten in der Prognostizierung des Ausgangs eines Statusfeststellungsverfahrens nehmen durch die Novellierung des § 7a SGB IV zudem zu, indem der Gesetzgeber nunmehr verlangt, dass das vertragliche Dreiecksverhältnis der Beteiligten zwingend in das Feststellungsverfahren miteinzubeziehen ist (§ 7a Abs. 2 S. 2 SGB IV). So kommt es für die Frage, ob eine selbstständige Tätigkeit zwischen dem Auftragnehmer und dem Auftraggeber vorliegt, zukünftig auf sämtliche Rechtsbeziehungen an, die dieses Vertragsverhältnis prägen – mithin auch auf Vereinbarungen zwischen dem Auftraggeber und dem Endkunden (vgl. auch BSG, 14.03.2018 - B 12 KR 12/17 R).