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Acqui-hire: Der Fall Microsoft/Inflection und seine Folgen für Praxis und Gesetzgebung

04.12.2024

Das Bundeskartellamt veröffentlichte am 29.November 2024 die Ergebnisse seiner fusionskontrollrechtlichen Prüfung zur Übernahme nahezu aller Mitarbeitenden der Inflection AI, Inc. („Inflection“) durch die Microsoft Corporation („Microsoft“) („Microsoft/Inflection-Transaktion“). Die Prüfung ergab, dass die Microsoft/Inflection-Transaktion grundsätzlich von der deutschen Fusionskontrolle umfasst ist. Sie war jedoch mangels erheblicher Inlandstätigkeit von Inflection zum Zeitpunkt des Erwerbs letztlich nicht anmeldepflichtig. Der Fall verdeutlicht die zunehmende Bedeutung neuartigerer Transaktionsformen im digitalen Sektor, zu denen insbesondere auch „Acqui-hire-Transaktionen“ (d. h. primär auf den Erwerb von qualifiziertem Personal gerichteten Transaktionen) zählen. Die Positionierung des Bundeskartellamts ist interessant und sorgt bei dessen Präsidenten, Andreas Mundt, für weitreichende Reformgedanken.

Hintergrund: Was war passiert?

Im März 2024 übernahm Microsoft nahezu alle Mitarbeitenden von Inflection, einem 2022 gegründeten Technologie-Start-Up aus den USA. Inflection ist ein Entwickler von Basismodellen für maschinelles Lernen sowie des Chatbots „Pi“. Gleichzeitig mit der Übernahme der Mitarbeitenden wurden Vereinbarungen zur Finanzierung und Verwendung von Schutzrechten getroffen.

In jüngerer Zeit nahmen solche Acqui-hire-Transaktionen deutlich zu. So untersagte das Bundeskartellamt etwa im Jahr 2017 den Zusammenschluss der Ticket-Plattform Eventim und der Künstleragentur Four Artists Booking. Im Jahr 2019 verließen dann der Geschäftsführer und 27 von 45 Mitarbeitenden Four Artists Booking und traten im Jahr 2019 einer neugegründeten Tochtergesellschaft von Eventim bei. Damals bezeichnete Mundt den Vorgang als „ärgerlich“, stellte jedoch fest, dass die Neugründung der Tochtergesellschaft nicht anmeldepflichtig und damit der Überprüfung durch das Bundeskartellamt entzogen war.

Bei Acqui-hire-Transaktionen wechseln regelmäßig hochqualifizierte Mitarbeitende des Zielunternehmens zum Erwerber, wodurch das Wettbewerbspotenzial des Zielunternehmens auf den Erwerber übergeht. Besonders betroffen sind hierbei junge, innovative Firmen der Digitalbranche, insbesondere solche, die an der Entwicklung künstlicher Intelligenz arbeiten.

Weltweite Fusionskontrollverfahren

Microsoft hatte vor der britischen Wettbewerbsbehörde („CMA“) bereits vorgetragen, dass bei der Microsoft/Inflection-Transaktion kein Zusammenschluss gegeben sei. Zum einen handele es sich nicht um eine Übernahme von Mitarbeitenden, sondern um Kündigungen der alten Beschäftigungsverhältnisse und Abschluss neuer individueller Verträge mit Microsoft. Zum anderen seien die von Microsoft erworbenen Vermögensgegenstände lediglich „Produktionsfaktoren“, die nicht von der Fusionskontrolle erfasst würden.

Diese Ansicht teilten die Wettbewerbshüter nicht. Die CMA bewertete die Microsoft/Inflection-Transaktion als einen Zusammenschluss. Letztlich wurde dieser jedoch genehmigt, da keine wettbewerblichen Bedenken wegen der geringen Nutzung des KI-Tools und des Chatbots von Inflection vorlägen.

Auch die Europäische Kommission („Kommission“) erklärte im September 2024, dass nach ihrer Auffassung ein Zusammenschluss im Sinne von Art. 3 Fusionskontrollverordnung („FKVO“) vorlag. Die Umsatzschwellenwerte der europäischen Fusionskontrolle waren jedoch nicht erreicht, sodass die Kommission keine Zuständigkeit hatte. Auf die Aufforderung der Kommission hin stellten anschließend sieben Mitgliedsstaaten einen Verweisungsantrag gem. Art. 22 FKVO. Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Illumina/GRAIL, welcher die weitreichende Praxis der Verweisung an die Kommission gem. Art. 22 FKVO für unzulässig erklärt hatte, zogen die Mitgliedstaaten ihre Verweisungsanträge an die Kommission jedoch zurück und das Verfahren wurde eingestellt.

Ob auch die amerikanische Wettbewerbsbehörde (FTC), welche die Microsoft/Inflection-Transaktion seit Juni 2024 prüft, diese als Zusammenschluss bewerten wird, bleibt abzuwarten.

Untersuchung durch das Bundeskartellamt

Die Überprüfung der Microsoft/Inflection-Transaktion durch das Bundeskartellamt mündete ebenfalls in der Einstellung des Verfahrens, obwohl es u. a. die Übernahme der Mitarbeitenden als Zusammenschluss qualifizierte.

Zunächst stellte das Bundeskartellamt – in Übereinstimmung mit den Bewertungen der Kommission und der CMA – zwar klar, dass die Übernahme der Mitarbeitenden in Kombination mit Regelungen zur Finanzierung und Nutzung von Schutzrechten als faktischer Unternehmenszusammenschluss zu bewerten und grundsätzlich anzumelden sei.

Weiter war auch der Transaktionsschwellenwert grundsätzlich überschritten, da der Wert der Gegenleistung über der Schwelle von EUR 400 Mio. lag. Hintergrund der Einführung des Transaktionsschwellenwertes war, dass gerade im Bereich der digitalen Märkte der Wert eines Unternehmens sich nicht zwingend im Umsatz, sondern vielmehr in Nutzerzahlen und Netzwerkeffekten ausdrücken kann. Inflection hatte als Start-Up zwar noch keinen hohen Umsatz, sein Wettbewerbspotenzial drückte sich aber im hohen Kaufpreis aus, den Microsoft zu zahlen bereit war.

Eine weitere wesentliche Voraussetzung für die Anmeldepflicht – die signifikante wirtschaftliche Tätigkeit des Zielunternehmens in Deutschland zum Zeitpunkt der Transaktion – war jedoch aufgrund der noch zu geringen Nutzerzahlen des Chatbots „Pi“ in Deutschland nicht erfüllt, was dann doch zur Einstellung des Verfahrens führte.

Bedeutung des Falls

Die Bewertung der Microsoft/Inflection-Transaktion als Zusammenschluss ist positiv aufzunehmen. Acqui-hire-Transaktionen sind oftmals eine weiterentwickelte Form der sogenannten „Killer-Acquisitions“ durch große Technologieunternehmen und häufig darauf gerichtet, fusionskontrollrechtliche Anmeldepflichten zu umgehen.

Allerdings blieb dem Bundeskartellamt letztlich die Überprüfung des Falls verwehrt. Auch vor diesem Hintergrund stellt sich erneut die Frage, ob neuartige Kooperations- und Transaktionsformen gerade im schnell wachsenden Digitalsektor ausreichend von den geltenden Regeln der Fusionskontrolle mit klaren schwellenwertbasierten Anmeldepflichten erfasst werden.

Künftige Reformen und Entwicklungen

Italien und Schweden haben daher mittlerweile sogenannte „Call-in“ Regularien erlassen. Diese ermöglichen es Wettbewerbsbehörden, eine Transaktion unabhängig vom Erreichen vorab klar geregelter Schwellenwerte, im Nachhinein und nach Vollzug zu prüfen. Mundt sieht diesen nachträglichen Call-in-Ansatz skeptisch. Dieser sei tendenziell mit Folgen verbunden, die man bei der Fusionskontrolle normalerweise zu vermeiden versuche, nämlich mit Rechtsunsicherheit und mangelnder Vorhersehbarkeit.

Er sieht vielmehr im deutsch-österreichischen Modell des Transaktionsschwellenwertes das richtige Zukunftswerkzeug. Seit der Einführung des Transaktionsschwellenwertes konnten bereits etwa 130 Fälle – vor allem im Technologie- und Pharmasektor – erfasst werden. Um in Zukunft dessen Effektivität weiter zu erhöhen, schlägt er vor, den Transaktionsschwellenwert von derzeit EUR 400 Mio. auf EUR 300 Mio. zu senken. Zudem wird eine Reform der Voraussetzung der erheblichen Inlandsaktivität diskutiert, an welcher eine fusionskontrollrechtliche Prüfung in der Microsoft/Inflection-Transaktion scheiterte. Mundt schlägt vor, bei der Prüfung der Inlandsaktivitäten die potenziellen oder zukünftigen Aktivitäten eines Unternehmens in Deutschland einzubeziehen, was natürlich ohne weiteren Kontext zunächst ebenfalls eine gewisse weitere Aufweichung klar vorhersehbarer Schwellenwerte darstellen dürfte.

Fazit

Die Entscheidung des Bundeskartellamts ist eine positive Nachricht, denn sie verdeutlicht, dass das deutsche Kartellrecht auch neuere und unkonventionelle Übernahmemodelle in der Digitalwirtschaft effektiv erfassen kann. Spannend bleibt insoweit, wie die 12. GWB-Novelle solche aktuellen und künftig zu erwartenden Entwicklungen noch stärker berücksichtigen wird. Entgegen dem ursprünglichen Zeitplan wurde ein Referentenentwurf bisher nicht veröffentlicht. Angesichts der vorzeitigen Neuwahlen in Deutschland dürfte mit einem Entwurf wohl erst im Laufe des Jahres 2025 zu rechnen sein.

Ungeachtet dessen könnten in Zukunft weitere ähnlich gelagerte Fälle stärker in den Fokus der Wettbewerbsbehörden rücken. Besonders in technologischen Schlüsselbranchen sowie im Pharmabereich sollten Unternehmen die weiteren Entwicklungen genau im Blick behalten.