EU-Fusionskontrolle im Wandel: Europäische Kommission leitet umfassende und ambitionierte Überprüfung der Leitlinien zur Fusionskontrolle ein
Hintergrund
Nach mehr als 20 Jahren ist es nun an der Zeit, die Auslegung und Anwendung des EU-Fusionskontrollrechts zu überprüfen. Am 8. Mai 2025 hat die Europäische Kommission eine öffentliche Konsultation zur Überarbeitung der Leitlinien für die Anwendung der EU-Fusionskontrollverordnung auf Fusionen und Übernahmen eingeleitet. Die Konsultation betrifft die Leitlinien für Transaktionen zwischen Wettbewerbern (Leitlinien zur Bewertung horizontaler Unternehmenszusammenschlüsse von 2004) und für Transaktionen zwischen Nicht-Wettbewerbern (Leitlinien zur Bewertung nichthorizontaler Unternehmenszusammenschlüsse von 2008) (zusammenfassend als „Leitlinien Fusionskontrolle“ bezeichnet).
Die Leitlinien Fusionskontrolle sind keine gesetzlichen Bestimmungen. Als „soft law“ bieten sie jedoch eine Orientierungshilfe bei der Bewertung von Fusionen, Übernahmen und Joint Venture-Konstellationen und dienen der Europäischen Kommission, den EU-Gerichten (und auch den nationalen Behörden und Gerichten) als wichtige Referenz für die Interpretation der materiellen Konzepte der EU-Fusionskontrollverordnung. Die Leitlinien Fusionskontrolle sind integraler Bestandteil der EU-Policy im Bereich der Fusionskontrolle und ermöglichen es den Unternehmen, ihre geplanten Transaktionen und die Wahrscheinlichkeit einer Genehmigung mit oder ohne Abhilfemaßnahmen zu bewerten, wodurch die dringend benötigte Rechtssicherheit gefördert wird.
Es ist offensichtlich, dass sich in den letzten 20 Jahren viel geändert hat. Zwei Jahrzehnte EU-Rechtsprechung und das Entstehen neuer Märkte im Zuge der Globalisierung, Digitalisierung, Dekarbonisierung sowie neue wirtschaftliche und geopolitische Herausforderungen haben eine Überarbeitung der Leitlinien Fusionskontrolle unumgänglich gemacht. Die Konsultation ist zudem eine prompte Reaktion auf die ausdrückliche Forderung des Draghi-Berichts über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, die EU-Policy im Bereich der Fusionskontrolle zu überdenken (siehe hierzu unseren Alert). Auch die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, forderte die Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera in ihrem Mandatsschreiben dazu auf, die Wettbewerbspolitik durch eine Überarbeitung der Leitlinien Fusionskontrolle zu modernisieren (siehe hierzu unseren Alert); eine Forderung, die auch im EU-Kompass für Wettbewerbsfähigkeit aufgegriffen wurde (siehe hierzu unseren Alert).
Was ist zu erwarten?
Ohne das Gesetz zu ändern, beabsichtigt die Europäische Kommission, ihre Auslegung der grundlegenden Konzepte der Fusionskontrolle zu erläutern und möglicherweise in Ansätzen neu zu formulieren, um Resilienz, Effizienz und Innovation, Zeithorizonte, die Investitionsintensität des Wettbewerbs in strategischen Sektoren, Nachhaltigkeit/Dekarbonisierung und die veränderten Rahmenbedingungen bei Verteidigung und Sicherheit besser zu berücksichtigen. Die Bewertung von Transaktionen durch die EU könnte sich damit zu einem umfassenderen Ansatz verlagern und möglicherweise allgemeinere politische Ziele und noch häufiger Auswirkungen außerhalb des Marktes berücksichtigen, anstatt sich auf kurzfristige Preiseffekte einer Transaktion zu konzentrieren. Gleichzeitig ist sich die Europäische Kommission der Schwierigkeiten bewusst, die dieser Ansatz mit sich bringen würde, da die Leitlinien Fusionskontrolle einen belastbaren und berechenbaren Rahmen für die (Selbst-)Einschätzung von Zusammenschlussvorhaben bieten müssen.
Wie kann man sich beteiligen?
Die Europäische Kommission hat zwei Konsultationsverfahren eingeleitet. Erstens werden in einer allgemeinen Konsultation Rückmeldungen von Bürgern, Unternehmen und Verbänden zu den allgemeinen Zielen der EU-Fusionskontrolle, zu möglichen Unstimmigkeiten und zu Möglichkeiten der Vereinfachung und Kostensenkung eingeholt. Zweitens werden im Rahmen einer eingehenden Konsultation Stakeholder mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet der Fusionskontrolle aufgefordert, sich zu den folgenden sieben Kernfragen zu äußern (zu denen die Europäische Kommission entsprechende Hintergrundpapiere erstellt hat).
Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz sind zentrale Themen, die im Draghi-Bericht angesprochen werden. Fusionen und Übernahmen können Unternehmen dabei helfen, ihre Produktivität zu steigern und auf globalen Märkten zu bestehen. Die Pandemie, der Krieg Russlands gegen die Ukraine sowie der grüne und digitale Wandel zeigen, dass zuverlässige und robuste Lieferketten notwendig sind. Die Konsultation wirft die Frage auf, wie die qualitativen und quantitativen Instrumente der Fusionskontrollanalyse auf die Beurteilung einer strategischen Resilienz gegenüber externen Schocks angewendet werden können. Sie wirft die Frage auf, wie Innovations- und Investitionsanreize, die durch Fusionen und Übernahmen geschaffen – oder behindert – werden, bewertet werden sollten und wie die Europäische Kommission die Vorteile berücksichtigen sollte, die Unternehmen aufgrund ihrer globalen Präsenz erzielen.
Bei der Marktmacht geht es um die Frage, welche strukturellen Merkmale und anderen Indikatoren am hilfreichsten sind, um Marktmacht zu beurteilen. Marktanteile und Konzentrationsgrad werden wahrscheinlich weiterhin einen nützlichen ersten Anhaltspunkt bieten, aber die Europäische Kommission ist auch daran interessiert zu verstehen, wie andere Kriterien, wie z. B. Umsatz- und Kapazitätsanteile, Umleitungsquoten (diversion ratio) oder Gewinnspannen anzuwenden sind. Die Konsultation bittet um Beiträge zu diesen Merkmalen sowie zur Anwendung von Safe Harbours, widerlegbaren Vermutungen und zur Bewertung koordinierter und nichthorizontaler Effekte.
Innovation und andere dynamische Elemente in der Fusionskontrolle betreffen die Bewertung von nicht-preisbezogenen Parametern, wie z.B. die Auswirkungen einer Fusion auf Innovation und langfristige Investitionen. Mit Draghis Vorschlag einer „Innovationsverteidigung“ und der Aufforderung im Kompass für Wettbewerbsfähigkeit, der Innovation in Anbetracht der akuten Bedürfnisse der europäischen Wirtschaft ein angemessenes Gewicht zu verleihen, stellt die Bewertung und Abwägung möglicher Innovationsvorteile und potenzieller Wettbewerbsbeeinträchtigungen eine Herausforderung dar. Die Fusionskontrolle ist eine zukunftsorientierte Betrachtung und als solche mit Unsicherheiten behaftet. Dies gilt insbesondere für die Bewertung der Auswirkungen einer Transaktion auf dynamische Wettbewerbsparameter wie Innovation oder langfristige Investitionen. Die Europäische Kommission legt daher großen Wert darauf, dass die von den Stakeholdern eingeholten Beiträge möglichst spezifisch sein sollen und nicht zu allgemein. Darüber hinaus hat die Europäische Kommission eine Wirtschaftsstudie ausgeschrieben, die darauf abzielt, die dynamischen Auswirkungen besser zu verstehen und wie sie bei der Bewertung von Fusionen und Übernahmen berücksichtigt werden können.
Nachhaltigkeit und saubere Technologien wurden von der Europäischen Kommission bei (komplexen) Transaktionen bereits als nicht-preisbezogenen Wettbewerbsparameter berücksichtigt, aber „grüne Effizienzgewinne“, die wettbewerbswidrigen Auswirkungen aufwiegen können, wurden bisher nicht akzeptiert. Die Konsultation soll mehr Aufschluss über die Methodik und die Parameter geben, die in die wettbewerbliche Bewertung einfließen sollen, um Nachhaltigkeitserwägungen zu berücksichtigen, sowie über die Quantifizierung und Überprüfung von „grünen Effizienzen“.
Die Digitalisierung steht in direktem Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit der EU. Die auf den schnelllebigen digitalen Märkten zu beobachtende Phänomene wie Big Data, Netzwerkeffekte, „Winner-takes-all“-Dynamik und die Bündelung eng miteinander verbundener Produkte und Dienstleistungen in digitalen Ökosystemen, haben die Europäische Kommission dazu veranlasst, teilweise vom klassischen Rahmen für die Bewertung horizontaler/nicht-horizontaler Zusammenschlüsse abzuweichen. In der Konsultation wird gefragt, wie die besonderen Wettbewerbsaspekte und die Dynamik bei der Fusionskontrolle berücksichtigt werden können.
Effizienzgewinne haben die Europäische Kommission bisher nicht dazu veranlasst, eine wettbewerbswidrige Transaktion zu genehmigen. Die Crux ist, dass eine Transaktion zwar Effizienzvorteile für die Zusammenschlussbeteiligten bringen kann, diese aber nicht unbedingt an die Verbraucher weitergegeben werden und daher den potenziellen Schaden einer Transaktion nicht ausreichend auszugleichen vermögen. In der Konsultation werden die bisher verwendeten kumulativen Kriterien auf den Prüfstand gestellt – Effizienzgewinne müssen (i) den Verbrauchern zugutekommen, (ii) transaktionsspezifisch, und (iii) nachprüfbar sein – und es wird untersucht, wie Effizienzgewinne im Lichte allgemeinerer politischer Ziele wie Nachhaltigkeit und Innovation interpretiert werden können.
Aspekte der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie arbeitsmarktpolitische Erwägungen werden gesondert behandelt und ausdrücklich als politische Ziele anerkannt, die indirekt die demokratischen Institutionen, das Gleichgewicht zwischen öffentlicher und privater Macht, die Medienvielfalt, eine wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie und hochwertige Arbeitsplätze für die Europäer schützen. Sicherheit und Verteidigung sind sensible Bereiche mit nationalen Sicherheitsinteressen, die rechtlichen Schutz genießen. Die Europäische Kommission hat noch nie eine Transaktion in der Verteidigungsindustrie untersagt. Dennoch wird in der Konsultation gefragt, ob weitere Leitlinien hilfreich wären, und es wird um Feedback zur Medienvielfalt und zu den Arbeitsmärkten gebeten.
Zeitplan
Die Stakeholder sind aufgefordert, ihre Meinung bis zum 3. September 2025 zu äußern. Nach Ablauf dieser Frist sind Treffen mit Interessengruppen, öffentliche Veranstaltungen und Workshops geplant. Danach wird es eine weitere Konsultation zum Entwurf der überarbeiteten Leitlinien Fusionskontrolle geben. Die neuen Leitlinien Fusionskontrolle werden voraussichtlich nicht vor Ende 2027 veröffentlicht werden.
Die ausführliche Konsultation befasst sich mit einer Vielzahl von Strategien und Themen, so dass die Beteiligten eine breite Palette von Überlegungen und Alternativvorschlägen vorbringen können. Unserer Ansicht nach kann die größte Wirkung erzielt werden, wenn man sich darauf konzentriert, wie genau die Europäische Kommission diese Überlegungen in Einzelfällen berücksichtigen kann.
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