Herausforderungen der Digitalisierung und Missbrauchsaufsicht
Das kartellrechtliche Instrumentarium des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (sog. Missbrauchsaufsicht) erlangt für Wettbewerbsbehörden wegen der fortschreitenden Digitalisierung und der sich dabei für spezifische Geschäftsfelder ergebenden Monopolisierungstendenzen immer größere Bedeutung. Die Europäische Kommission hat in den letzten Jahren Rekordbußgelder gegen Intel, Qualcomm und Google wegen des mutmaßlichen Missbrauchs ihrer jeweils marktbeherrschenden Stellung verhängt. Auch das Bundeskartellamt ermittelt derzeit in einem Verfahren gegen Facebook, das international erhebliche Aufmerksamkeit erlangt hat. Die Erwartungen der Politik und Öffentlichkeit an die Missbrauchsaufsicht sind hoch. Vor diesem Hintergrund wird derzeit lebhaft diskutiert, ob die Missbrauchskontrolle noch in der Lage ist, mit der Digitalisierung Schritt zu halten, oder ob spezifische gesetzliche Modernisierungsmaßnahmen erforderlich sind.
Worum geht es?
Gerade in der Digitalwirtschaft lässt sich bei manchen Unternehmen und Märkten aufgrund von Netzwerkeffekten und der zunehmenden Bedeutung großer Datenmengen eine gewisse Tendenz zur Monopolisierung erkennen. Insbesondere kommt es immer wieder vor, dass gerade Plattformanbieter mit neuen innovativen Diensten in bestimmten Marktsegmenten schnell eine stetig steigende Anzahl an Nutzern generieren und so in kurzer Zeit eine besonders starke Stellung für die von ihnen angebotenen Dienste erlangen. Für die Wettbewerbsbehörden ergibt sich dabei die Herausforderung, neue innovative Geschäftsmodelle nicht in der Start- und Entwicklungsphase einzuengen, gleichzeitig aber den Wettbewerb auf Märkten mit hoher Dynamik und Innovationskraft offenzuhalten und Gefahren für abhängige Unternehmen und Verbraucher zu verhindern. Ein verstärkter Fokus des Kartellrechts auf den Verbraucherschutz hat in Deutschland bereits durch die Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen („GWB“) im Juni 2017 mit der Einführung des § 32e Absatz 5 GWB Einzug in das Gesetz gehalten. Danach kann das Bundeskartellamt auch dann eine Sektoruntersuchung einleiten, wenn ein begründeter Verdacht auf erhebliche, dauerhafte oder wiederholte Verstöße gegen verbraucherrechtliche Vorschriften vorliegt (siehe dazu bereits unseren Beitrag vom 01.08.2017).
Die Verfahren der Europäischen Kommission in Sachen „Google Shopping“ und „Google Android“, aber auch des Bundeskartellamtes zur Datenerhebung von Facebook zeigen, dass die Wettbewerbsbehörden von einem weiten Anwendungsbereich der kartellrechtlichen Missbrauchstatbestände ausgehen. Für Unternehmen auf digitalen Märkten bedeutet dies, dass sie damit rechnen müssen, nicht nur bei Einsatz von nicht wettbewerbskonformen Mitteln auch in neuartigen Fallkonstellationen in das Visier der Wettbewerbsbehörden zu geraten. So steht in der Digitalwirtschaft beispielsweise die Verwendung von Algorithmen zur quasi-selbständigen Preisanpassung (sog. „dynamic pricing“) und zur Beobachtung des Preisverhaltens von Wiederverkäufern seit Längerem im Fokus des Bundeskartellamtes, aber auch anderer europäischer Wettbewerbsbehörden sowie der Europäischen Kommission (siehe dazu bereits unseren Beitrag vom 07.03.2018).
Die Bedeutung der Missbrauchsaufsicht dürfte in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. So wurde im Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung der Bedarf für eine Modernisierung des Kartellrechts festgestellt und hierbei gerade auch die Weiterentwicklung der Missbrauchsaufsicht, insbesondere im Hinblick auf Plattformunternehmen genannt (siehe unseren Beitrag vom 08.02.2018). Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat zur Vorbereitung möglicher Gesetzesänderungen bereits eine Studie zur „Modernisierung der Missbrauchsaufsicht“ in Auftrag gegeben, die kürzlich veröffentlicht worden ist. Ebenso hat gerade die „Kommission Wettbewerbsrecht 4.0“ ihre Tätigkeit aufgenommen, die sich u. a. mit Fragen zur Missbrauchsaufsicht beschäftigen wird. Anlässlich dieser Entwicklungen trafen sich Anfang Oktober über 120 Wettbewerbsexperten im Rahmen der Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht zur Diskussion und zum Gedankenaustausch, deren wesentliches Ergebnis das Bundeskartellamt in einem Hintergrundpapier zusammengefasst hat.
Was haben Unternehmen zu erwarten?
Die möglichen Modernisierungsmaßnahmen betreffen zunächst die Dauer des Verfahrens der Missbrauchsaufsicht. Gerade mit Blick auf die Schnelllebigkeit der digitalen Wirtschaft wird diskutiert, ob der bestehende gesetzliche Rahmen mit den Dynamiken der Märkte Schritt halten kann. Auch insoweit stellt der Koalitionsvertrag Handlungsbedarf hinsichtlich der Beschleunigung der Missbrauchsverfahren fest. Diesbezüglich wird vor allem die Stärkung der einstweiligen Maßnahmen durch Herabsetzung der Eingriffsvoraussetzungen nach dem Vorbild des Competition Act im Vereinigten Königreich diskutiert, bei dem bereits ein „vernünftiger Verdacht“ eines Kartellverstoßes zum Einschreiten der Wettbewerbsbehörde ermächtigt.
Darüber hinaus ist angedacht, den Besonderheiten digitaler Plattformen und Netzwerke durch die Einführung von Spezialtatbeständen Rechnung zu tragen (soweit dies nicht schon durch die letzte Gesetzesnovelle geschehen ist). Dabei wird insbesondere diskutiert, ob es Plattformanbietern in konzentrierten Märkten verboten werden soll, mithilfe strategischer Behinderung von Wettbewerbern ein Umkippen des Marktes in ein Monopol (sog. „Tipping“) zu begünstigen, also noch bevor eine beherrschende Stellung eines Unternehmens entstanden ist. Dadurch sollen vor allem solche Verhaltensweisen erfasst werden, die für Nutzer die parallele Verwendung verschiedener Anbieter und Dienste (sog. „Multihoming“) oder den Plattformwechsel (sog. „Switching“) künstlich erschweren. Sind die Märkte nämlich erst einmal „gekippt“, können Maßnahmen zur Wiederherstellung wirksamen Wettbewerbs schwierig sein. Gerade Plattformmärkte, bei denen die Anbieter der Plattform auch in Wettbewerb zu den die Plattform nutzenden Drittunternehmen stehen, sind kürzlich in den Fokus der Wettbewerbsbehörden geraten (siehe z. B. die Untersuchung der Europäischen Kommission gegen Amazon).
Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist in diesem Zusammenhang der Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten. Hierbei wird eine Klarstellung in § 20 Abs. 1 GWB in Betracht gezogen (das Verbot sog. „relativer Marktmacht“), da sich eine Abhängigkeit von Daten auch daraus ergeben kann, dass ein Unternehmen für eine substanzielle eigene Wertschöpfung auf den Zugriff zu automatisiert erzeugten Daten angewiesen ist, die jedoch exklusiv von einem anderen Unternehmen kontrolliert werden. Dies dürfte insbesondere im Kontext des Internet of Things (IoT) an Bedeutung gewinnen, da die Kommunikation zwischen verschiedenen vernetzten Geräten den Zugriff auf bestimmte Daten zwingend voraussetzt. Da jedoch grundsätzlich das Erlangen einer marktbeherrschenden Stellung mit wettbewerblichen Mitteln kartellrechtlich zulässig ist, werden auch andere Möglichkeiten, wie z. B. die Regulierung bestimmter Geschäftsmodelle, in Erwägung gezogen. So hat die Europäische Kommission für den Bereich der digitalen Plattformen und Suchmaschinen im Verhältnis zu ihren gewerblichen Nutzern bereits den Vorschlag einer Verordnung vorgelegt. Dadurch soll für eine höhere Transparenz, insbesondere bei Gestaltung und Änderung von Geschäftsbedingungen, und eine wirksame Streitbeilegung durch Einführung von Beschwerdemechanismen gesorgt werden.
Was sind die Folgen?
Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass das kartellrechtliche Missbrauchsrecht hinsichtlich digitaler Märkte eine erhebliche Fortentwicklung erfahren wird. Unternehmen, die auf diesen Märkten tätig sind, sollten daher bei ihrer strategischen Positionierung im Markt nicht außer Acht lassen, dass sich in vielen Konstellationen kartellrechtliche Fallstricke ergeben können. Dabei gilt es für jedes Unternehmen kritisch zu hinterfragen, ob sich die Geschäftsprozesse und vertraglichen Grundlagen mit den aktuellen und den zu erwartenden Regelungen der Missbrauchsaufsicht in Einklang bringen lassen, oder ob spezifische Vorkehrungen getroffenen werden müssen, wie etwa die Anpassung bestehender Verträge. Je nach Perspektive und Stellung eines Vertragspartners sollten damit Risiken und Chancen genauestens geprüft werden.