„Klima-Compliance“: Nach Bundesverfassungsgericht und Rechtbank Den Haag erhöht auch der EuGH den Handlungsdruck
Nach den jüngsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtbank Den Haag erhöht jetzt auch der Europäische Gerichtshof mit seinem Urteil vom 03. Juni 2021 den Handlungs- und Anpassungsdruck auf Staat und Unternehmen massiv.
In jüngster Vergangenheit haben eine Reihe von Gerichtsentscheidungen zum Klimaschutzrecht für Furore gesorgt: Zunächst hat das Bundesverfassungsgericht mit am 29. April 2021 veröffentlichtem Beschluss zentrale Bestandteile des Klimaschutzgesetzes für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Kurz darauf, am 26. Mai 2021, verpflichtete die Rechtbank Den Haag in einer – allerdings noch nicht rechtskräftigen – Entscheidung das Unternehmen Royal Dutch Shell , seine CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent im Vergleich zum Jahr 2019 zu reduzieren. Schließlich hat der Europäische Gerichtshof mit Entscheidung vom 03. Juni 2021 im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland Anforderungen aus der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa nicht erfüllt hat, indem sie jahrelang nicht effektiv genug gegen Überschreitungen von Grenzwerten für den Luftschadstoff Stickstoffdioxid vorgegangen ist (Rechtssache C-635/18).
Die drei Entscheidungen haben dem Klimaschutzrecht mit einem Schlag einen neuen Stellenwert verliehen. Der durch die Entscheidungen massiv erhöhte Handlungs- und Anpassungsdruck auf Staat und Unternehmen wird nachfolgend im Anschluss an eine Analyse des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz näher untersucht.
Wesentliche Aussagen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts
Wesentlicher Regelungsgehalt des Klimaschutzgesetzes
Um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einordnen zu können, ist zunächst der wesentliche Regelungsgehalt des Klimaschutzgesetzes (in seiner noch nicht novellierten Fassung) zu rekapitulieren. Erklärter Zweck des Klimaschutzgesetzes ist der Schutz vor den Auswirkungen des Klimawandels und die Sicherstellung der Einhaltung der europäischen Zielvorgaben zum Klimaschutz. Das Klimaschutzgesetz soll hierfür einen Rahmen vorgeben, indem es verbindliche Vorgaben zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes in Deutschland macht bzw. ein Verfahren regelt, in dem die Reduzierungsziele bestimmt werden. Die Regelung konkreter Maßnahmen zur Erreichung der Reduzierungsziele bleiben spezifischen Fachgesetzen vorbehalten. Grundlage des Gesetzes ist das Pariser Klimaschutzabkommen („PA“) und das darin enthaltene Ziel, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf „deutlich unter 2 Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem industriellen Zeitalter“ zu begrenzen.
Regelungssystematisch differenziert das Gesetz grundlegend zwischen dem Zeitraum bis zum Jahr 2030 und dem anschließenden Zeitraum bis zur geplanten Erreichung der Klimaneutralität im Jahr 2050. Für den Zeitraum bis zum Jahr 2030 enthält das Gesetz einen verbindlichen Reduzierungspfad mit Jahresemissionshöchstmengen für die Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und Sonstiges sowie Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft.
Für den Zeitraum nach dem Jahr 2030 enthält das Klimaschutzgesetz keine derart konkreten Jahresemissionshöchstmengen. Für diesen Zeitraum wird vielmehr die Bundesregierung ermächtigt und verpflichtet, spätestens im Jahr 2025 für „weitere Zeiträume“ den Reduzierungspfad durch Rechtsverordnung zu regeln. Die Ermächtigungsgrundlage schreibt für die Reduzierung durch Rechtsverordnung lediglich vor, dass sie mit der Erreichung der im Klimaschutzgesetz geregelten Klimaschutzziele und den unionsrechtlichen Anforderungen im Einklang stehen muss.
Rechtliche Würdigung durch das Bundesverfassungsgericht
Die zentralen Aussagen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erschließen sich leichter, wenn man sich zunächst die Prämissen vergegenwärtigt, von denen das Gericht ausgeht.
Das Bundesverfassungsgericht stellt zunächst fest, dass das PA – aufbauend auf dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, wie er vom Intergovernmental Panel on Climate Change, auch „Weltklimarat“ genannt, aufbereitet wurde – die Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben, zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 verpflichtet. Von diesem Ziel ausgehend, hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen ein „deutsches“ CO2-Restbudget abgeleitet, das bis zur Erreichung der Klimaneutralität höchstens zur Verfügung steht. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass dieses Deutschland zur Verfügung stehende CO2-Restbudget Pate stand für die Regelung des Reduzierungspfades im Klimaschutzgesetz. Das Bundesverfassungsgericht geht weiter davon aus, dass mit jeder CO2-Menge, die in Deutschland verbraucht wird, das CO2-Restbudget irreversibel verkleinert wird. Das Gericht stellt sodann fest, dass die im Klimaschutzgesetz bis zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen fast dem gesamten Deutschland zustehenden CO2-Restbudget entsprechen. Für die Einordnung der rechtlichen Kernaussagen des Bundesverfassungsgerichts ist schließlich von entscheidender Bedeutung, dass das Gericht unterstellt, die Reduzierung des CO2-Ausstoßes lasse sich nur durch Anpassungen erreichen, die mit tiefgehenden Eingriffen in Grundrechte einhergingen.
Ausgehend von diesen Prämissen ist das Bundesverfassungsgericht der Auffassung, der Gesetzgeber habe den sich aus Art. 20a GG ergebenen Klimaschutzauftrag konkretisiert und sich selbst gebunden, indem er das Reduktionsziel des PA zur Handlungsgrundlage erklärt hat. Die im Klimaschutzgesetz enthaltenen Reduzierungsziele stünden mit dem Staatsziel des Klimaschutzes aber in Einklang. Das Gericht betont insofern den weiten gesetzgeberischen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum und berücksichtigt die mit den erforderlichen Prognosen einhergehenden Unsicherheiten.
Neben dem sich aus Art. 20a GG ergebenden Staatsziel des Klimaschutzes sei das Klimaschutzgesetz aber auch anhand der Grundrechte der Beschwerdeführer zu messen. Grundsätzlich stellt das Gericht fest, dass Grundrechte Vorwirkungen entfalten könnten und bei der gesetzgeberischen Gestaltung zukünftiger Sachverhalte zu berücksichtigen seien („intertemporale Freiheitssicherung“). Gemessen an dieser Grundannahme entfalte der im KSG geregelte Reduktionspfad eingriffsähnliche Vorwirkungen, weil der bis zum Jahr 2030 zugelassene, irreversible Verbrauch von CO2 fast dem gesamten Restbudget entspreche, das Deutschland bis zur Erreichung der Klimaneutralität zur Verfügung stehe. Dieser Grundrechtseingriff sei nicht gerechtfertigt, weil und soweit durch den vorgesehenen Reduktionspfad Gefahren der Beeinträchtigung künftiger grundrechtlicher Freiheit begründet würden. Der bis zum Jahr 2030 zugelassene Verbrauch fast des gesamten Deutschland zustehenden CO2-Restbudget sei unverhältnismäßig, weil er unvermeidbare Freiheitsbeeinträchtigungen fast in Gänze in die Zukunft verschiebt.
In der Folge hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Klimaschutzgesetz mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit eine den Urteilsgründen widersprechende Fortschreibung der Minderungsziele für die Zeiträume ab dem Jahr 2030 fehlt. Bis zum 31. Dezember 2022 muss der Gesetzgeber die Fortschreibung der Minderungsziele ab dem Jahr 2030 nach Maßgabe der Urteilsgründe regeln. Den Urteilsgründen lassen sich drei zentrale Vorgaben entnehmen: Sicherzustellen seien, erstens, hinreichende Vorkehrungen zur Linderung der ab dem Jahr 2030 zukommenden Minderungslast, zweitens, die Schaffung eines entwicklungsfördernden Planungshorizonts und, drittens, eine nähere Ausgestaltung des Reduktionspfades. Hiermit korrespondierend hat das Bundesverfassungsgericht die im Klimaschutzgesetz vorgesehene Ermächtigung der Bundesregierung zur Festlegung des Reduktionspfads ab dem Jahr 2030 für unwirksam erklärt, weil Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung nicht hinreichend bestimmt seien.
Die Bundesregierung hat auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bereits reagiert. Am 12. Mai 2021 hat sie den Entwurf eines Änderungsgesetzes beschlossen, in dem sie die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen versucht. Obwohl das Bundesverfassungsgericht eine Verschärfung des Reduzierungspfades nicht explizit verlangt hat, sieht die Novelle des Klimaschutzgesetzes u.a. genau dies vor: Nunmehr ist vorgesehen, den Ausstoß von Treibhausgasen bis zum Jahr 2030 um 65 anstatt, wie bisher, um 55 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 zu reduzieren. Für das Jahr 2040 ist ein neues Zwischenreduzierungsziel von 88 Prozent Minderung vorgesehen. Die Verschärfung des Reduzierungspfades kommt wenig überraschend, weil dadurch die grundrechtskonforme Ausgestaltung des Weges zur Klimaneutralität nach dem Jahr 2030 zumindest erheblich erleichtert, wenn nicht vielleicht sogar rein faktisch überhaupt erst ermöglicht wird.
Massiver Handlungs- und Anpassungsdruck auf Staat und Unternehmen
Die Folgen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts sind grundsätzlicher Natur und weitreichend. Der Beschluss verleiht, gerade weil er in unmittelbaren zeitlichem Zusammenhang mit wichtigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und der Rechtbank Den Haag ergangen ist, Klimaschutzrecht eine neue, bisher unbekannte Bedeutung.
Justiziabilität staatlicher Klimaschutzmaßnahmen
Rechtlich wohl am bedeutsamsten ist die mit dem Beschluss zur Gewissheit erstarkte Erkenntnis, dass der Klimaschutz justiziabel (geworden) ist. Jeder grundrechtsberechtigte Bürger – eine altruistische Beschwerdebefugnis von Umweltverbänden erkennt das Bundesverfassungsgericht nicht an – kann die Klimaschutzmaßnahmen des Gesetzgebers vor dem Bundesverfassungsgericht auf den Prüfstand stellen. Zwar ist das Bundesverfassungsgericht ersichtlich gewillt, dem Gesetzgeber einen angemessenen Handlungsspielraum zu belassen, indem es wiederholt die gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume und Einschätzungsprärogative betont. Diese Spielräume finden ihre Grenzen allerdings in den Grundrechten und der sich aus ihnen ergebenden Pflicht zur intertemporalen Freiheitssicherung. Rechtlich, aber noch stärker rechtspolitisch, wird sich der Gesetzgeber – und ihm „vorgelagert“ natürlich vor allem die Bundesregierung – einem dauernden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sehen, der dazu führen dürfte, dass Klimaschutzmaßnahmen in Zukunft mit einer neuen Konsequenz angegangen und umgesetzt werden.
Einem zusätzlichen Handlungsdruck sieht sich der deutsche Staat seitens der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshof ausgesetzt: Mit der am 03. Juni 2021 veröffentlichen Entscheidung zur unzureichenden Umsetzung der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa hat der Europäische Gerichtshof deutlich gemacht, dass er nicht länger willens ist, den nachlässigen Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit unionsrechtlichen Klimaschutzvorgaben hinzunehmen.
Schwer denkbar ist demgegenüber derzeit noch eine Entscheidung, wie sie am 26. Mai 2021 die Rechtbank Den Haag getroffen hat. Das niederländische Gericht hat das Unternehmen Royal Dutch Shell verpflichtet, seine CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent im Vergleich zum Jahr 2019 zu reduzieren. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, hat aber nachvollziehbar bereits viel Aufmerksamkeit erregt. Eine ähnliche Entscheidung dürfte in Deutschland in absehbarer Zukunft zwar nicht zu erwarten sein, fußt das Klimaschutzrecht hier doch, wie der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zeigt, auf Grundrechten und Staatszielen. Grundrechte und Staatsziele verpflichten aber primär den Staat, nicht private Unternehmen. Dass in Zukunft die im Grundsatz anerkannte Drittwirkung von Grundrechten zwischen Privaten dazu führt, das auch private Unternehmen von Bürgern mit Erfolg auf bestimmte Klimaschutzmaßnahmen verklagt werden können, ist zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, zum jetzigen Zeitpunkt aber doch äußerst fernliegend.
Die Bedeutung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts wird dadurch nicht geschmälert. Die Stoßrichtung ist lediglich eine andere als (möglicherweise) in den Niederlanden. Im Fokus wird bis auf weiteres der Staat stehen, der den Grundrechten und den Staatszielen angemessene Klimaschutzmaßnahmen umsetzen muss.
Bisher unbekannter Anpassungsdruck auf Unternehmen
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wird mittelbar einen so bisher nicht gekannten Druck auf Unternehmen ausüben, ihr Handeln stärker an Klimaschutzzielen auszurichten. Dieser Anpassungsdruck wird von zahlreichen Fachgesetzen ausgehen, die auf die Novelle des Klimaschutzgesetzes folgen werden. In diesen Fachgesetzen werden konkrete Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes festgelegt werden. Kurz nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts kursierten hierzu bereits zahlreiche Vorschläge. Auch der Kabinettsbeschluss zur Novelle des Klimaschutzgesetzes wurde von einem Beschluss begleitetet, in dem erste Ansätze für verschärfte Klimaschutzmaßnahmen bereits skizziert werden.
Das neue Tempo bei der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen wird zahlreiche Folgeherausforderungen mit sich bringen. Führen etwa gesetzlich angeordnete Klimaschutzmaßnahmen dazu, dass der Nutzwert von privatem Eigentum weitestgehend ausgehöhlt wird, stellt sich die Frage nach Entschädigungen. Bei dem Ausstieg aus der Braunkohleverstromung hat sich der Gesetzgeber dazu entschlossen, die Anlagenbetreiber für die vorzeitige Stilllegung ihrer Anlagen zu entschädigen. Ob und inwieweit dies auch in Zukunft geschieht, ist allerdings offen. Möglichweise ist der finanzielle Spielraum für Entschädigungen beschränkt, wenn der vorangetriebene Strukturwandel nicht mehr nur einzelne Unternehmen, sondern potentiell ganze Wirtschaftssektoren betrifft. Gesetzgeber und Bundesregierung sind dann möglicherweise gezwungen, sich eingehend mit der Frage auseinanderzusetzen, wo die Grenzen von entschädigungslos hinzunehmenden Klimaschutzvorgaben verlaufen.
„Klima-Compliance“ als selbständiger Prüfgegenstand im Rahmen von Due Diligences
Vor dem Hintergrund der vorstehend beschriebenen Auswirkungen ist absehbar, dass „Klima-Compliance“ für Unternehmen zunehmend wert- und handlungsbestimmend sein wird. Vor diesem Hintergrund ist für die Transaktionspraxis der Trend absehbar, dass „Klima-Compliance“ zukünftig ein eigenständig zu prüfender Gesichtspunkt im Rahmen von Due Diligences sein wird. Dabei wird es auch darum gehen, die für das zu erwerbende Unternehmen vielleicht erst zukünftig anwendbaren Klimaschutzregularien zu identifizieren und einen eventuellen Investitionsstau frühzeitig zu erkennen. Im Finanzsektor sind ESG-Kritierien (environment – social – governance) ohnehin seit Längerem ein anerkannter und immer wichtiger werdender Maßstab für die Bewertung von Investments. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wird auch hier den Trend verstärken, klimaschutzrechtlichen Bewertungsgesichtspunkten eine höhere Bedeutung beizumessen.