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Das „Schlecker“-Urteil des BGH

16.01.2023

Am 04.01.2023 veröffentlichte der Bundesgerichtshof (BGH) das bereits am 29.11.2022 ergangene und mit Spannung erwartete Urteil in Sachen Schlecker (Urteil v. 29.11.2022, Az. KZR 42/20, Volltextveröffentlichung hier). Wenngleich die Pressemitteilung nach Urteilsverkündung teils als klägerfreundliche Wendung des BGH bei Informationsaustauschkartellen interpretiert wurde, reiht sich das – für die Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehene – Urteil in die bisherige Rechtsprechung des Kartellsenates im Kartellschadensersatz ein, die eine umfassende Prüfung des Parteivortrages durch den Tatrichter verlangt.

Hintergrund

Die – inzwischen insolvente – Drogeriemarktkette Schlecker e.K.i.L. (Schlecker) nahm vor dem Landgericht und Oberlandesgericht Frankfurt a. M. mehrere Hersteller von Drogeriemarktprodukten auf Schadensersatz in Höhe von knapp 212 Mio. Euro in Anspruch. Diese hatten sich zwischen 2004 und 2006 an einem kartellrechtswidrigen Informationsaustausch über aktuelle und zukünftige Bruttopreiserhöhungen, inklusive etwaiger Rabattaktionen, beteiligt (sogenanntes Drogeriekartell). Nach einem Kronzeugenantrag verhängte das Bundeskartellamt zwischen 2008 und 2013 Bußgelder gegen die verschiedenen Kartellteilnehmer. Schlecker erwarb im Kartellzeitraum verschiedene Produkte dieser Hersteller, wobei die Preise jeweils in Jahresgesprächen vereinbart wurden. Nun machte Schlecker eigene Schäden aufgrund erhöhter Produktpreise geltend. Die Klage war in beiden Vorinstanzen erfolglos, insbesondere da vom jeweiligen Gericht kein kartellbedingt eingetretener Schaden für Schlecker festgestellt werden konnte.

Die Entscheidung des BGH

Der BGH hob das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur Entscheidung an das OLG Frankfurt a. M. zur neuen Entscheidung zurück.

Während der Kartellverstoß der Beklagten iSd. Art. 81 EGV (nun Art. 101 AEUV) sowie § 1 GWB aus dem Bußgeldbescheid folgt und auch die Kartellbetroffenheit von Schlecker als Abnehmer der kartellierten Drogeriemarktprodukte bejaht wird, steht die Frage der Feststellung des kartellbedingten Schadens im Vordergrund.

Keine Schadensvermutung und keine bindende Feststellung aufgrund des Bußgeldbescheids

Der BGH verwarf zunächst die Rüge der Revision, dass bereits aufgrund der Bindungswirkung des Bußgeldbescheids gem. § 33 Abs. 4 GWB (2005) von dem Eintritt eines Kartellschadens bei Schlecker auszugehen sei. Gerade bei Feststellung einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung müsse das Bundeskartellamt keinerlei Feststellungen zu den konkreten Auswirkungen auf den Wettbewerb treffen. Die Feststellung eines Nachteils für die jeweiligen Abnehmer sei insoweit nicht tragend und würde daher nicht an der Bindungswirkung des § 33 Abs. 4 GWB (2005) teilnehmen. Vielmehr seien Fragen der Schadenskausalität sowie der Schadenshöhe grundsätzlich allein Gegenstand der freien Beweiswürdigung durch das Gericht. Die hierfür erforderlichen Feststellungen habe der Tatrichter zu treffen, wobei ihm die Erleichterung der möglichen Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO zustehe. Die daraus folgende tatrichterliche Würdigung sei vom BGH mit der Revision nur eingeschränkt überprüfbar – der BGH überprüfe lediglich, ob Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder der Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt wurden (siehe bereits BGH, Urteil v. 28.01.2020, BGHZ 224, 281 Rn. 35 mwN. – Schienenkartell II). Der Tatrichter sei hierfür insbesondere bei der Behandlung von Beweisanträgen besonders freigestellt. Er dürfe – und müsse – bei einem Indizienbeweis vor der Beweiserhebung prüfen, ob ihn die vorgetragenen Indizien von der Wahrheit der zu beweisenden Haupttatsache überzeugen.

Erfahrungssatz für kartellbedingte Preiserhöhung ist relevantes Indiz – auch bei reinem Informationsaustausch

Diese Grundsätze sah der BGH im vorliegenden Fall durch das Berufungsgericht verletzt, das aufgrund seiner Bewertung des festgestellten Informationsaustauschkartells keine hinreichenden indiziellen Umstände erkannte. Im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung (siehe nur BGH, Urteil v. 28.01.2020, BGHZ 224, 281 – Schienenkartell II) stellte der BGH zunächst fest, dass auch außerhalb des temporären Anwendungsbereichs des § 33a Abs. 1 GWB bei kartellrechtswidrigen Gebiets- und Preisabsprachen zugunsten des Abnehmers eine auf der hohen Wahrscheinlichkeit beruhende tatsächliche Vermutung im Sinne eines Erfahrungssatzes für den Eintritt einer kartellbedingten Preiserhöhung streite. Diesen Erfahrungssatz übertrug der BGH nunmehr auf den hier vorliegenden reinen Informationsaustausch über geheime Informationen zur aktuellen und künftigen Preispolitik. Auch hier spreche ein Erfahrungssatz dafür, dass die beteiligten Wettbewerber gemeinsam ein höheres Preisniveau erreichten als ohne den Informationsaustausch. Grund hierfür sei die Vermutung, dass die am Austausch beteiligten Unternehmen die erlangten Informationen bei der Bestimmung ihres eigenen Marktverhaltens berücksichtigen würden – dies zähle zum ökonomischen Erfahrungswissen und entspreche wirtschaftlicher Vernunft.

Keine Beweislastumkehr – auch nicht europarechtlich

Der Kartellsenat stellte dabei erneut klar, dass sich aus diesem Erfahrungssatz weder ein Anscheinsbeweis noch eine Umkehr der Beweislast ergibt. Vielmehr könne ein solcher Erfahrungssatz nur einen Indizienbeweis für die behauptete Tatsache begründen. Die Notwendigkeit einer Beweislastumkehr folge – vor dem Inkrafttreten der Kartellschadensersatzrichtlinie, die eine gesetzliche Vermutung für einen Schaden eingeführt hat – auch nicht aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz. Dieser verlange nur, dass der Beweis für einen kartellbedingten Schaden auch durch Indizien geführt werden könne. Zudem würde ihm ausreichend durch die Möglichkeit der Schadensschätzung iSd. § 287 Abs. 1 ZPO Rechnung getragen.

Gewicht des Erfahrungssatzes durch Gesamtwürdigung zu bestimmen

Allerdings dürfe dem Erfahrungssatz auch bei einem Informationsaustausch – zumindest abstrakt betrachtet – keine nur geringe Indizwirkung beigemessen werden. Der BGH erteilt insoweit jedoch nur einer schematischen Betrachtung eine Absage. Denn im Rahmen der Gesamtwürdigung habe der Tatrichter zu prüfen, ob sich im konkreten Fall Indizien ergeben (etwa Häufigkeit und Dauer des Informationsaustauschs), welche den Erfahrungssatz im Einzelfall bestätigen oder entkräften. Vertieft ging der Gerichtshof anschließend auf die im Einzelfall in die Gesamtwürdigung einfließenden Indizien ein. Hier zeigt das Urteil auf, dass vom Tatrichter verlangt wird, die hinsichtlich des einzelnen ökonomischen Argumentes und der jeweiligen Abweichung klar zu prüfen, ob es sich um Indizien handelt, die für oder gegen einen Schaden und eine Anwendung des Erfahrungssatzes sprechen und danach hinsichtlich der Frage der Darlegungs- und Beweislast zu differenzieren. Der Kartellsenat prüft dabei die jeweiligen Behauptungen im Kontext der von ihm angenommenen Wirkungsweise der Zuwiderhandlung, die er ausgehend von der ordnungswidrigkeitenrechtlichen Bewertung der Tateinheit eher generell bestimmt.

Verwerfung einer Regressionsanalyse nicht hinreichend

Schon nach bisheriger Rechtsprechung ist eine von einer Partei vorgelegte Regressionsanalyse, nach der sich eine – oder eben keine – Differenz zwischen den Preisen auf dem kartellierten Markt und einem kartellfreien Vergleichsmarkt ergibt, ein zu berücksichtigendes Indiz für den Eintritt eines Kartellschadens bzw. gegen einen solchen. Nunmehr stellt der BGH fest, dass der Tatrichter die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zur Bestimmung eines Schadens grundsätzlich nicht mit der Begründung ablehnen, die Regressionsanalyse enthalte methodische Fehler. Denn die Behauptung des Klägers, es sei ein kartellbedingter Schaden entstanden, sei angesichts des festgestellten Erfahrungssatzes nicht ohne greifbare Anhaltspunkte „ins Blaue hinein“ und daher auch nicht im zivilprozessualen Sinne rechtsmissbräuchlich.

Folgen für die Praxis

Eine wirkliche Überraschung ist das Urteil des BGH angesichts seiner jüngsten Rechtsprechung im Kartellschadensersatz nicht. Erneut klärt der Kartellsenat den Prozess der Ergebnisfindung und findet hier Rechtsfehler im Einzelfall.

Neu ist, dass der Gerichtshof den bereits für kartellrechtswidrige Preis- und Gebietsabsprachen entwickelten Erfahrungssatz für den Eintritt einer kartellbedingten Preiserhöhung nun auch auf den kartellrechtswidrigen Informationsaustausch erstreckt und dabei unterstellt, dass solche Informationen nach der Lebenserfahrung von Unternehmen genutzt werden. Insoweit werden die Hürden für Kartellgeschädigte verringert. Dazu kommt, dass der Tatrichter auch bei der Vorlage mangelhafter Regressionsanalysen – wie in der Praxis häufig – die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens erwägen muss, wenn der Sachvortrag im Übrigen hinreichende Indizien für einen Schaden bietet.

Allerdings sollte dies nicht bedeuten, dass von nun an Tatrichter bei Schadensersatzklagen nach kartellrechtswidrigem Informationsaustausch stets auch den Eintritt eines kartellbedingten Schadens bejahen müssen. Denn der BGH betont nachdrücklich, dass weder ein Anscheinsbeweis noch eine Umkehr der Beweislast für den Eintritt eines Schadens streitet. Im Ergebnis muss der Tatrichter im Rahmen der Schadensschätzung nach § 287 ZPO daher sämtliche – von beiden Seiten – vorgetragene Indizien berücksichtigen und dabei stets beachten, wer für die jeweils behauptete Tatsache darlegungs- und beweisbelastet ist. So trägt auch nach dem BGH allein der Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Informationsaustausch zu einer Erhöhung des Preisniveaus geführt hat. Die Kartellbeteiligten müssen dagegen darlegen und im Zweifel wohl auch den Beweis dafür führen, dass die erlangten Informationen für die Bestimmung ihres Marktverhaltens nicht von Relevanz waren. Neu ist dies insoweit nicht, als die Darlegung, warum trotz der Zuwiderhandlung die Preise wettbewerblich gebildet worden wären, bereits heute wesentliches Element der wirksamen Verteidigung ist.

Es bleibt auf Kläger- wie Beklagtenseite wesentlich, Markt- und Preissetzungsmechanismen aufzuzeigen und zu plausibilisieren, die für sich als Indiz für oder gegen einen Schaden sprechen. Ökonometrische Untersuchungen können dies jeweils plausibilisieren und sind zwar ein wichtiges, nicht jedoch das einzige Element im Parteivortrag.

Letztlich zeigt der Bundesgerichtshof einmal mehr: Die Tatgerichte müssen im Rahmen ihrer richterlichen Entscheidungsfindung den gesamten Parteivortrag und die Wirkweise des einzelnen Kartells würdigen, wenn erforderlich mit Unterstützung eines gerichtlich bestellten Sachverständigen.

Noerr ist Vorreiter auf dem Gebiet des Kartellschadensersatzes. In einem interdisziplinären Team vereint Noerr umfassende Erfahrung und Know-How in Kartellschadensersatzprojekten und ausgewiesene Branchenkenntnis. Unser Team wehrt seit Jahren erfolgreich Ansprüche im Nachgang von Entscheidungen von Kartellbehörden ab. Zudem entwickelt unser Team für weltweit tätige Unternehmensgruppen umfassende Projekte zur strukturierten Prüfung und Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen und vertritt diese Mandanten gerichtlich und außergerichtlich.